Schwarzer Mond: Roman
schlafen, wenngleich nicht ohne Ängste und ohne ein paar Dosen Bier. Aber in den beiden letzten Nächten, als Faye in Wisconsin und er allein war, hatte er nur mit brennender Nachttischlampe einschlafen können. Und er wusste, dass er auch in dieser Nacht den Schutz der Helligkeit benötigen würde.
Und wenn Faye am Dienstag zurückkam? Würde er dann wieder ohne Licht schlafen können? Was, wenn Faye die Lampen ausschaltete ... und er dann zu schreien anfing wie ein angsterfülltes Kind? Beim Gedanken an diese drohende Demütigung biss er knirschend die Zähne zusammen und trat ans nächste Fenster heran.
Er griff mit seiner muskulösen Hand nach den fest zugezogenen Vorhängen. Zögerte. Sein Herz vollführte die reinste Imitation einer gedämpften Maschinengewehrsalve.
Er war für Faye immer die Stärke in Person gewesen, ein Felsen, auf den sie sich verlassen konnte. Das sollte ein Mann auch sein: ein Felsen. Er durfte Faye nicht enttäuschen. Er musste diese seltsame Anwandlung überwinden, bevor sie von Wisconsin zurückkam.
Er bekam eine trockene Kehle und begann wieder zu frieren, als er sich vorstellte, was hinter dem bisher verborgenen Glas lag, aber er wusste, dass die einzige Möglichkeit, diese Angst zu besiegen, darin bestand, ihr ins Auge zu sehen. Das war die Lektion, die das Leben ihm erteilt hatte: Sei tapfer, stelle dich dem Feind, kämpfe! Diese Philosophie des Handelns hatte bei ihm immer funktioniert. Sie würde auch jetzt funktionieren.
Das Fenster auf der Rückseite des Motels ging auf die weiten Wiesen und Hügel des unbewohnten Oberlandes hinaus, und das einzige Licht dort draußen kam von den Sternen. Er musste die Vorhänge beiseiteschieben, der düsteren Landschaft ins Auge sehen, die Dunkelheit ertragen. Diese Konfrontation würde eine Art heilsamer Schock für ihn sein, sie würde ihn ein für allemal kurieren.
Ernie schob die Vorhänge auseinander. Er spähte in die Nacht hinaus und versuchte sich einzureden, dass diese totale Schwärze gar nicht so übel sei -tief und rein, weit und kalt, aber nicht bösartig und keineswegs eine persönliche Bedrohung.
Während er jedoch hinausblickte, schienen sich Teile der Dunkelheit zu ... nun ja, zu verschieben, sich zusammenzuschließen, feste -wenngleich nicht deutlich erkennbare -Form anzunehmen -Massen pulsierender kompakter Schwärze in der großen Schwärze ringsum, lauernde Phantome, die jeden Moment gegen das zerbrechliche Fenster anstürmen konnten.
Er biss die Zähne zusammen, lehnte seine Stirn an die eiskalte Scheibe.
Die Steppe von Nevada, ohnehin schon eine riesige Einöde, schien jetzt noch größer zu werden. Er konnte die von der Nacht eingehüllten Berge nicht sehen, aber er spürte, dass sie wie durch Zauberei zurückwichen, dass die Ebenen zwischen ihm und dem Gebirge immer weiter wurden, sich über Hunderte von Kilometern erstreckten, über Tausende, bis in die Unendlichkeit; und er befand sich plötzlich inmitten einer immensen Leere, die sich nicht beschreiben ließ. Ringsum war eine Lichtlosigkeit, die alle Grenzen der menschlichen Fantasie weit überstieg, eine furchtbare Leere, links und rechts, vorne und hinten, und auf einmal konnte er nicht mehr atmen.
Das war wesentlich schlimmer als alles, was er bisher erlebt hatte. Eine unendliche Angst. Tief, umfassend. Erschreckend in ihrer Stärke. Und er war ihr ganz und gar ausgeliefert.
Abrupt wurde er sich des enormen Gewichtes dieser Dunkelheit bewusst, und sie schien unerbittlich zu ihm hineinzugleiten, unvorstellbar hohe Mauern schwerer Dunkelheit, die ihn von allen Seiten umgaben, ihn zusammendrückten, ihm den Atem aus den Lungen pressten ...
Er schrie auf und warf sich nach hinten.
Er fiel auf die Knie, und die Vorhänge fielen leise raschelnd wieder zu. Das Fenster war nun wieder verhüllt. Die Finsternis war seinen Blicken entzogen. Um ihn herum war Licht,
segenspendendes Licht. Er ließ den Kopf hängen und holte tief Luft, während er immer noch am ganzen Leib zitterte.
Er kroch auf allen vieren zum Bett und zog sich auf die Matratze hoch; lange Zeit lag er da und lauschte auf seinen Herzschlag, der sich allmählich vom Tempo eines Sprinters zu dem eines Wanderers normalisierte. Anstatt sein Problem zu lösen, hatte die kühne Konfrontation es nur noch verschlimmert.
»Was geht nur mit mir vor?« sagte er laut vor sich hin, während er an die Decke starrte. »Was stimmt nur nicht mit mir? Lieber Gott, was fehlt mir nur?«
Es war der 22.
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