Schwarzer Mond: Roman
bedeutet hatten.
Als Anna kurz nach Gingers zwölftem Geburtstag bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, herrschte bei Jacobs Verwandten allgemein die Meinung, dass Ginger und ihr Vater ohne die Schwedin ziellos dahintreiben würden. Der Weiss-Clan hatte schon längst aufgehört, Anna als störenden nichtjüdischen Eindringling zu betrachten; sie hatten ihr sowohl Respekt als auch Liebe entgegengebracht. Alle wussten, wie nahe sich diese drei Menschen gestanden hatten; was aber noch wichtiger war alle wussten, dass Anna die Lokomotive gewesen war, der die Familie ihren Erfolg verdankte. Anna hatte den am wenigsten ehrgeizigen der Weiss-Brüder geheiratet -Jacob den Träumer, Jacob den Sanftmütigen, Jacob, der seine Nase immer in einem Kriminal- oder Science-Fiction-Roman hatte -, und sie hatte etwas aus ihm gemacht. Als sie ihn heiratete, war er Angestellter bei einem Juwelier; als sie starb, besaß er zwei eigene Juweliergeschäfte.
Nach der Beerdigung versammelte sich die Familie in Tante Rachels großem Haus in Brooklyn Heights. Ginger versteckte sich, sobald sie nur konnte, in der dunklen Einsamkeit der Speisekammer. In diesem engen Raum, in dem es nach den verschiedensten Gewürzen duftete, setzte sie sich auf einen Schemel und betete zu Gott, er möge ihre Mutter ins Leben zurückrufen.
Sie hörte, wie Tante Francine sich in der Küche mit Tante Rachel unterhielt. Fran beschwor eine düstere Zukunft herauf, die Jacob und seine kleine Tochter in einer Welt ohne Anna erwartete.
»Er wird nicht imstande sein, dafür zu sorgen, dass die Geschäfte weiterhin florieren, das weißt du genauso gut wie ich; er wird einfach nicht in der Lage dazu sein, nicht einmal, wenn der erste Schmerz vorüber ist und er seine Arbeit wieder aufnimmt.
Dieser arme Luftmensch. Anna war sein gesunder Menschenverstand und seine Motivation und sein bester Ratgeber, und ohne sie wird er in fünf Jahren bankrott sein.«
Sie hatten Ginger unterschätzt.
Verständlicherweise, muss man der Gerechtigkeit halber hinzufügen, denn immerhin war Ginger erst zwölf Jahre alt, und obwohl sie schon die zehnte Klasse besuchte, so war sie in den Augen der meisten Menschen doch noch ein Kind. Niemand hätte vorhersehen können, dass sie so schnell Annas Platz einnehmen würde. Sie kochte genauso gern wie ihre Mutter, und in den Wochen nach dem Begräbnis studierte sie eifrig alle möglichen Kochbücher und eignete sich mit der für sie typischen Ausdauer und Sorgfalt die kulinarischen Fähigkeiten an, die sie bei Anna noch nicht gelernt hatte. Als zum erstenmal nach dem Todesfall wieder Verwandte zum Abendessen kamen, konnten sie nicht genug lobende Worte für die Speisen finden. Hausgemachte Kartoffelpuffer und Käse-Kolatschen. Gemüsesuppe mit einer Einlage aus fettem Käse und Rinderkreplach. Schrafe fish als Appetithappen. Geschmortes Kalbfleisch mit Paprika, tzimmes mit Backpflaumen und Kartoffeln, in heißem Fett gebackene Makkaronipastetchen mit Tomatensauce. Pfirsichpudding oder Apfel Charlotte als Nachtisch. Francine und Rachel waren überzeugt davon, dass Jacob eine großartige Haushälterin in der Küche versteckte. Sie glaubten es kaum, als Jacob auf seine Tochter deutete. Ginger fand nichts Besonderes an ihrer Leistung. Eine Köchin wurde benötigt, also kochte sie eben.
Sie musste sich jetzt um ihren Vater kümmern, und sie widmete sich dieser Aufgabe mit hingebungsvoller Leidenschaft.
Sie putzte das Haus rasch, aber so gründlich, dass Tante Francine bei ihren heimlichen Inspektionen nirgends Schmutz oder Staub entdecken konnte. Obwohl sie erst zwölf Jahre alt war, lernte sie, ein Haushaltsbudget aufzustellen, und sie war noch nicht dreizehn, als sie sich selbständig um alle Rechnungen kümmerte.
Mit vierzehn -drei Jahre jünger als ihre Klassenkameraden schloss Ginger als beste Schülerin die High School ab und hielt die Rede bei der Schlussfeier. Als bekannt wurde, dass sie von mehreren Universitäten angenommen worden war, sich jedoch für Barnard entschieden hatte, fragten sich alle, ob sie sich damit in ihrem zarten Alter nicht doch übernehmen würde.
Barnard war tatsächlich schwieriger als die High School. Sie lernte nun nicht mehr schneller als ihre Mitschüler, aber sie hielt mit den besten stand, und ihr Notendurchschnitt war häufig 4,0 und niemals niedriger als 3,8 -und das auch nur in jenem Semester ihres dritten Studienjahres, als Jacob zum erstenmal an Bauchspeicheldrüsenentzündung erkrankte und sie jeden
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