Schwarzer Mond: Roman
Abend im Krankenhaus verbrachte.
Es war Jacob vergönnt, noch am Leben zu sein, als sie ihr erstes Examen erfolgreich ablegte; bleich und schwach, konnte er auch noch ihre Promotion zum Doktor der Medizin mit ihr feiern; er durfte sogar noch die ersten sechs Monate ihrer Tätigkeit als Assistenzärztin miterleben. Aber nach dreimaliger Entzündung der Bauchspeicheldrüse bekam er Krebs, und er starb, bevor Ginger endgültig den Entschluss fasste, nicht eine Karriere in der medizinischen Forschung anzustreben, sondern am Boston Memorial eine Ausbildung zur Fachärztin für Chirurgie zu absolvieren.
Da es ihr vergönnt gewesen war, ihren Vater um einiges länger als ihre Mutter zu behalten, hing sie an ihm besonders stark, und Jacobs Tod war für sie deshalb noch viel schmerzhafter, als der Verlust Annas es einst gewesen war. Aber sie bewältigte ihr Leid, und sie schloss ihre Assistenzzeit mit ausgezeichneten Zeugnissen und Empfehlungen ab.
Danach ging sie für zwei Jahre nach Kalifornien, um ein nur an der Stanford University mögliches, sehr anstrengendes Zusatzstudium in kardiovaskulärer Pathologie zu absolvieren.
Nach einem Monat Ferien (der längsten Ruhepause, die sie sich je gegönnt hatte) kehrte sie in den Osten zurück, nach Boston, wo sie einen hervorragenden Mentor in Dr. George Hannaby fand (dem Chefchirurgen am >Memorial<, der für seine Pionierleistungen auf dem Gebiet der kardiovaskulären Operationen großes Ansehen genoss) und drei Viertel ihrer zweijährigen Ausbildung problemlos hinter sich brachte.
Dann ging sie eines Dienstagmorgens im November in Bernsteins Delikatessengeschäft, um ein paar Einkäufe zu machen, und schreckliche Dinge nahmen ihren Anfang. Der Vorfall mit den schwarzen Handschuhen. Damit begann alles.
Dienstag war ihr freier Tag, und sofern sich nicht gerade einer ihrer Patienten in einer lebensgefährlichen Krise befand, wurde sie in der Klinik nicht gebraucht. In den beiden ersten Monaten im >Memorial< war sie mit dem für sie typischen unermüdlichen Schwung und Enthusiasmus auch an den meisten freien Tagen zur Arbeit gegangen, weil sie sich keine schönere Beschäftigung vorstellen konnte. Aber sobald George Hannaby davon erfahren hatte, setzte er dem ein Ende. Er erklärte Ginger, dass die medizinische Praxis höchste Konzentration erfordere und dass jeder Arzt, sogar Ginger Weiss, Freizeit benötige.
»Wenn Sie sich zu hart, zu schnell, zu unbarmherzig vorantreiben«, sagte er, »werden nicht nur Sie selbst darunter leiden, sondern auch Ihre Patienten.«
Also schlief sie nun dienstags eine Stunde länger als gewöhnlich, duschte ausgiebig und trank zwei Tassen Kaffee, während sie am Küchentisch vor dem Fenster, das auf die Mount Vernon Street hinausging, die Morgenzeitung las. Um zehn Uhr kleidete sie sich an und ging zu Bernsteins Delikatessenladen in der Charles Street, einige Blocks von ihrer Wohnung entfernt, wo sie Pastrami, Corned beef, hausgemachte Brötchen oder süßes Pumpernickelbrot, Kartoffelsalat, gefüllte Pfannkuchen, etwas Lachs oder geräucherten Stör und manchmal auch noch vareniki mit Quarkfüllung kaufte, die sie nur noch aufzuwärmen brauchte. Dann ging sie mit ihrer Tüte voll leckerer Sachen nach Hause und futterte den ganzen Tag, während sie Agatha Christie, Dick Francis, John D. MacDonald, Elmore Leonard und manchmal auch etwas von Heinlein las. Obwohl sie ihre Arbeit immer noch weitaus mehr liebte als diese Entspannung, so begann sie allmählich doch, ihre Freizeit zu genießen, und die Dienstage verloren den Schrecken, den sie anfangs gehabt hatten, als sie sich widerwillig an die Sechstagewoche gewöhnen musste.
Jener schlimme Dienstag im November hatte schön begonnen. Es war ein kalter Tag, der Himmel winterlich grau, aber die Kälte wirkte belebend, und Ginger kam um 10.21 Uhr in Bernsteins Geschäft, das wie immer sehr voll war. Sie ging langsam an der langen Theke vorbei, spähte in Körbe mit Backwaren, betrachtete durch das beschlagene Glas die gekühlten Produkte und wählte genießerisch einige Delikatessen aus. Der Raum mit seinen herrlichen Düften und den fröhlichen Geräuschen wirkte wie immer anheimelnd auf sie: heiße Pfannkuchen, Zimt; Gelächter; Knoblauch, Zwiebeln; Stimmengewirr, in dem die englische Sprache mit Jiddisch, Bostoner Akzenten oder modernem Rock-and-Roll-Slang gewürzt war; geröstete Haselnüsse, Sauerkraut, Essiggurken, Kaffee; Klirren von Geschirr. Als Ginger alles hatte, was sie wollte, bezahlte
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