Schwarzer Neckar
Weder konnte er einen Namen aus den Stuttgarter Melderegistern noch eine Telefonnummer zur Adresse ermitteln. Er erfuhr nur, dass die Mozartstraße in der Nähe der Stadtbahnstation »Österreichischer Platz« im Stuttgarter Süden lag. Und dass das Wohngebiet ein sozialer Brennpunkt der Stadt sei, wie es der Kollege aus Stuttgart diplomatisch ausdrückte. Die spärlichen Informationen boten nicht unbedingt die besten Aussichten für den kommenden Tag.
FÜNF
Nur wenige Lichter brannten auf den Fluren und in den Büros der Polizeidirektion. Lediglich der Bereitschaftsdienst und ein paar unverbesserliche Arbeitstiere hielten um diese Zeit noch die Stellung in dem neuen Gebäude aus Glas und Beton. Die allermeisten Beamten und Angestellten der Rottweiler Polizei waren entweder schon zu Hause und genossen das Abendessen im Kreise ihrer Familien. Oder sie gingen einer Freizeitbeschäftigung nach.
Genauso wie Treidler früher, als er zweimal die Woche mit seinen Kollegen draußen vor der Stadt Squash gespielt hatte. Das gehörte der Vergangenheit an. Schlagartig, endgültig vorbei – als ob es nie existiert hätte. Und seit seiner Rückkehr zur Kriminalpolizei machten die meisten um ihn einen Bogen. Niemand fragte, ob er wieder mitspielen wollte. Nicht, dass er sich sofort darauf eingelassen hätte. Auch von seiner Seite saß das Misstrauen tief. Aber die Tatsache, dass sie ihn schlicht missachteten, schmerzte.
Auch Melchior hatte sich vor einer Weile verabschiedet. Sie murmelte etwas von Besichtigung. Treidler vermochte weder zu sagen, was sie sich anschauen wollte, noch, wann der Termin stattfand. In Wahrheit interessierte er sich nicht für ihre Belange. Nach diesem Tag freute er sich vielmehr, dass es niemanden mehr gab, der auf ihn einredete.
Kaum gehörte ihm das Büro wieder allein, öffnete Treidler die unterste Schreibtischschublade. Wie zu Hause, so bewahrte er auch hier Kopien der Untersuchungsberichte zum Mordfall Treidler auf. Fotos, Vernehmungsprotokolle und Aktennotizen der Kollegen, die den Fall vor zwei Jahren bearbeitet hatten. Ein ausgetauschter Schließzylinder im Schloss der Schublade sorgte dafür, dass sie nicht zufällig jemand anderem in die Hände fielen. Denn eigentlich dürfte er überhaupt nicht im Besitz dieser Unterlagen sein.
Für einen Augenblick dachte er darüber nach, einen Schluck aus der halb vollen Wodkaflasche zu nehmen. Statt sie zu öffnen, schob er zwei weitere leere Flaschen beiseite und zog die Mappe mit den Kopien der Untersuchungsberichte hervor. So wie er es abends immer tat, wenn er aus Angst vor der verlassenen Wohnung im Büro blieb. Heute wollte er sich die Tatortbeschreibung der beiden ermittelnden Kommissare Bernhard Winkler und Friedhelm Kleinert vornehmen. Nicht zum ersten Mal, denn er hatte das Dokument schon Dutzende Male gelesen. Vermutlich kannte er jedes Wort darin auswendig. Gleichwohl hoffte er immer noch auf diesen einen Hinweis, der ihn zum Mörder seiner Frau führte.
Lisa war jetzt seit zwei Jahren tot. Ermordet von einem Mann. Mit dem Geschlecht des Täters erschöpften sich damals die gemeinsamen Schlussfolgerungen der beiden leitenden Ermittler. Während Winkler sich schnell auf Treidler als Täter einschoss, blieb Kleinert bei der Theorie eines sexuell motivierten Tötungsdeliktes – obwohl es keinerlei Spuren einer Vergewaltigung gab. Dies ging aus den Aktennotizen der beiden hervor.
Treidler schloss die Lider und verfluchte die kommenden Weihnachtstage. Gedanken, Gerüche oder winzige Details sorgten dafür, dass plötzlich eine Art Film vor seinem geistigen Auge ablief. Meist konnte er sofort den Wochentag, das Datum und oft auch die Uhrzeit zu der Erinnerung nennen. Diesmal löste das simple Wort »Wohnung« die Bilder aus. Sie stammten vom Freitag, dem 28. November – drei Wochen vor dem Mord, als er sich gegen sechs auf den Heimweg gemacht hatte. Entgegen ihrer Gewohnheit hatte Lisa schon nachmittags im Büro angerufen und ihn gebeten, gleich nach dem Dienst nach Hause zu kommen.
Zu Hause, als sie ihn mit diesem vielsagenden Lächeln anstrahlte, ahnte er, dass dieser Abend etwas Besonderes werden würde. Und er wurde etwas Besonderes – etwas ganz Besonderes. Sie hatte gekocht, den Esszimmertisch gedeckt und den ganzen Raum mit Kerzen dekoriert. Er fühlte sich zurückversetzt in die Tage, als sie sich kennengelernt hatten. Zu ihrer ersten Verabredung zum Essen in der winzigen Zweizimmerwohnung. Schon damals strahlte sie diese
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