Schwarzer Neckar
er die drei Gegenstände in den Plastiktüten vor sich betrachtete. Treidler erkannte den Pass, den ihm Amstetter schon am Morgen in Florheim gezeigt hatte. Außerdem lagen dort eine große Tüte mit zwei daumendicken, länglichen Schachteln sowie eine kleinere, in der sich nichts befand als ein aufgefalteter Zettel von der Größe einer Spielkarte. Auf den beiden Schachteln und dem Papier prangten kyrillische Buchstaben.
»Das ist alles«, sagte Amstetter, als Treidler mit Melchior an den Tisch trat. »Hier fehlt nur das Geschoss. Patrone und Projektil sind schon drüben in der Ballistik.« Er schaute in die Runde und ergänzte mit einem Achselzucken: »Ansonsten haben wir da draußen nichts gefunden.«
Melchior nahm die Tüte mit den Packungen zur Hand und betrachtete sie. »Medikamente?«
Amstetter nickte. »Derzeit wissen wir allerdings noch nicht gegen was. Die beiden Schachteln lagen ganz in der Nähe der Bushaltestelle. Der Alte hat sie wohl kurz vor dem Mord verloren.« Er griff nach der Tüte mit dem Zettel und hielt sie Treidler vor die Nase. »Das Einzige, das mir interessant erscheint, ist dieses kleine Stück Papier hier. Für mich sieht das aus wie eine Adresse.«
»Mensch, Ernie – ich kann diesen verfluchten kyrillischen Scheiß nicht lesen. Auch wenn du mir den Fetzen Papier noch dichter vor die Nase hältst«, blaffte Treidler.
»Geben Sie mal her.« Melchior zupfte Amstetter die Tüte aus der Hand.
»Sie können kyrillische Buchstaben lesen?«, fragte er und blickte Melchior mit großen Augen an.
»Was glauben Sie, welche Fremdsprache man bei uns in der DDR auf den Schulen gelernt hat? Englisch vielleicht?«
Amstetter nickte Treidler zu, während Melchior den Zettel näher untersuchte.
»Das ist eine Adresse in Stuttgart. Das hier ist der russische Vorname Aleksander, und das sind die kyrillischen Buchstaben für das Wort ›Stuttgart‹. Darunter steht die Straße. Mozartstraße dürfte wohl die richtige Übersetzung dafür sein. Hausnummer 18.«
»Dann können Sie sicher auch den Namen in seinen Ausweispapieren identifizieren?«, fragte Amstetter.
»Ich denke schon. Aber das können Sie genauso gut. In den russischen Pässen werden alle Angaben sowohl in kyrillischen als auch in lateinischen Buchstaben gemacht.«
»In diesem hier nicht.« Er warf Melchior ein Paar Gummihandschuhe zu und reichte ihr die Tüte mit dem lädierten Büchlein, das einem dünnen Schulheftchen für Vokabeln glich. Nur der dunkelrote, leinenartige Umschlag mit einer vergilbten Prägung und diversen kyrillischen Buchstaben vermittelte einen halbwegs amtlichen Eindruck.
»Fingerspuren?«, fragte sie.
»Keine verwertbaren auf dem Deckel. Weiter sind wir momentan nicht.«
»Das ist ein alter sowjetischer Inlandspass«, stellte Melchior mit einem verdutzten Gesichtsausdruck fest, nachdem sie den Pass von der Tüte befreit und ein paarmal hin und her gedreht hatte. »Eine Art Personalausweis. Ich dachte, die gibt es schon lange nicht mehr.« Sie schlug die erste Seite auf und fuhr fort: »Tadschikischer Stempel, hm … Das ist merkwürdig …«
»Was ist daran so merkwürdig?«, fragte Treidler.
»Nun ja, das ist kein Auslandspass, und er ist seit über zehn Jahren abgelaufen. Entweder haben unsere Zollbeamten ihn nicht kontrolliert, oder der Mann hat andere Einreisedokumente benutzt.«
»Und? Wie heißt er?«, fragte Treidler ungeduldig.
»Nowak, Johann Nowak.«
»Johann Nowak? Das hört sich recht deutsch an«, gab er überrascht zurück. Der Fall entwickelte sich allmählich zu einer Aneinanderreihung von Seltsamkeiten. Ein bestimmt achtzigjähriger Mann mit sowjetischem Inlandspass, einem tadschikischen Wohnort und deutschem Namen lag kaltblütig ermordet im Bushaltehäuschen eines völlig bedeutungslosen Kaffs im äußersten Südwesten Deutschlands.
»So jedenfalls steht es hier. Geboren am 12. Dezember 1923 in … nein, das ist verwischt – den Geburtsort kann ich nicht mehr lesen. Hat wohl schon einiges mitgemacht, der Pass. Als Wohnsitz ist Duschanbe angegeben. Das ist die Hauptstadt von Tadschikistan.«
»Noch was?«
»Die Nummer seiner Propiska ist noch zu entziffern.«
»Die Nummer seiner was?«
»Seiner Propiska. Im Grunde war das früher das Recht eines Sowjetbürgers, sich in einer bestimmten Stadt niederzulassen. Ohne diese Registrierung gab es keine Wohnung, keine Arbeit und was weiß ich. Die zugehörige Nummer stempelte die Miliz in die Inlandspässe.«
»Und was bringt uns seine
Weitere Kostenlose Bücher