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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen.«
    Treidler spürte, dass die Entrüstung Petersens allmählich nachließ. Könnte es daran liegen, dass er ihn womöglich doch mehr schätzte, als er zugeben wollte?
    »Ich könnte Sie ein weiteres Mal suspendieren.«
    »Könnten Sie. Werden Sie aber nicht«, gab Treidler ungerührt zurück.
    »Was macht Sie da so sicher?«
    »Sie haben es vorhin selbst gesagt.«
    »Was?«
    »Dass Sie mich brauchen.«
    »Das heißt nicht, dass Sie hier tun und lassen können, was Sie wollen. Es gibt Regeln bei uns, die Sie einhalten müssen, auch wenn es Ihnen schwerfällt.«
    »Winkler ist doch nur ein verfluchtes Arschloch. Der will mich nur fertigmachen.«
    Der »Graue« atmete scharf aus. »Treidler, es ist es nicht mein Problem, wenn Sie den letzten Rest Ihres Lebens vor die Wand fahren. Aber machen Sie es nicht hier, bei mir in meiner Abteilung. Sie können gehen.«
    Als Treidler sein Büro betrat, fand er es verlassen vor. Melchiors Computer war ausgeschaltet, und ihre Lederjacke hing nicht an der Garderobe. Schon wollte er sie wegen der Handy-Aufnahme anrufen, als er zwei verschiedenfarbige Klebezettel an seinem Computermonitor entdeckte. Der gelbe stammte zweifellos von Ursula Lohrmann.
    Freitag 10 Uhr: Begräbnis Johann Novak
    Ein Termin, den er durchaus wahrnehmen sollte. Weitaus mehr interessierte ihn allerdings der pinkfarbene Zettel direkt daneben. Die Handschrift kannte er nicht.
    Musste kurzfristig weg, Wohnung anschauen …
    Komme um sieben bei Ihnen vorbei, wegen der Aufnahme.
    Carina Melchior

SECHZEHN
    Heute ist es wieder so weit: Latein. Die Benthaler Schulregel verlangt es von dir. Jede Woche muss an zwei Tagen Latein gelernt werden – auch jetzt noch, Jahre später. Du musst schnell machen, denn später hast du einen Termin. Zum Lernen in deiner Wohnung verwendest du einen alten Tisch mit geneigter Platte. Du kannst auf einer Schulbank besser lernen als an einem Schreibtisch. Die Schulbank stammt vom Rottweiler Flohmarkt. Sie hat ihre besten Zeiten längst hinter sich gelassen. Doch vom Kauf haben dich auch die zahllosen Risse nicht abgehalten, die sich über das dunkle Holz ziehen.
    Der Lichtschein der Kerze auf der Ablagefläche reicht kaum über die kleine Tischplatte hinaus. Nur bis zu dem winzigen Sitzplatz, auf den du dich zum Lernen gezwängt hast. Deine Knie stoßen fast am Boden an, und mit den Ellenbogen kannst du nur dann die Tischplatte erreichen, wenn du deinen Rücken krümmst. Dabei bist du so leise wie möglich, damit niemand bemerkt, wie deine Stimme mit jedem Wort tiefer wird.
    Dann nimmst du die handtellergroße Maske zur Hand, die neben dir auf der Sitzbank liegt. Es ist die gleiche, wie sie für Beatmungen in Krankenhäusern verwendet wird. Du presst die Maske auf Mund und Nase und öffnest das Ventil am Schlauch. Deine Atemgeräusche übertönen kaum das Zischen des Gases. Nach ein paar Sekunden legst du das Mundstück beiseite. Du musst nicht mehr flüstern, deine Stimme klingt plötzlich wieder wie die eines Engels.
    Jetzt kannst du weiterlernen und schiebst den kleinen abgegriffenen Karton Stück für Stück nach rechts. Jedes Mal deckst du ein wenig mehr vom darunterliegenden Blatt auf. Du musst dich beeilen. Auf dem Stapel vor dir liegen noch viele Blätter, die du zu lernen hast. Schließlich soll etwas Besonderes, etwas Großes aus dir werden. Auf der Seite stehen Dutzende Zeilen mit lateinischen Verben, die in jeder Spalte eine Person weiter konjugiert werden.
    »Präsens – laudo, laudas, laudat .« Sicher zählst du die Verben in der Einzahl auf, um dann in den Plural zu wechseln. »Laudamus, laudatis, laudant.« Es folgen die Verbformen für das Imperfekt, das Perfekt und die beiden Futur-Tempora. Ein Kinderspiel.
    In der darunterliegenden Zeile beginnt das nächste Verb, und du wiederholst die Prozedur, bis das Seitenende erreicht ist. Jetzt erst darfst du das oberste Blatt umgedreht auf einen zweiten Stapel legen. Bei den letzten Worten bemerkst du, dass deine Engelsstimme nachlässt und eine hässliche Männerstimme zum Vorschein kommt. Du drückst dir für ein paar Sekunden die Maske aufs Gesicht. Nach zwei, drei tiefen Atemzügen ist deine Engelsstimme wieder da.
    » Trahere , Präsens – traho, trahis, trahit, trahimus, trahitis, trahunt . Imperfekt – trahebam, trahebas, trahebat, trahebamus, trahebatis, trahebant . Perfekt …« Du stockst. Mit den Fingern trommelst du auf die Tischplatte, während du in deinem Gedächtnis

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