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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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nach der richtigen Verbform suchst. Es hilft nichts. Die Stille breitet sich weiter aus. Bald wird sie die Engelsstimme mitnehmen.
    Erneut greifst du nach der Atemmaske und lässt das Helium auf dich einwirken. Diesmal dauert es wesentlich länger, bis du das Ventil abdrehst und das Zischen verstummt. Wieder klopfst du ein paarmal auf die Tischplatte. Schließlich schiebst du das Blatt nach rechts und deckst die Spalte auf: traxi .
    Sekundenlang starrst du auf das Wort, dann beginnst du zu lachen. Zuerst nur zögerlich und leise, dann immer lauter. » Traxi wie Taxi«, sagst du und lachst weiter, immer weiter, bis dir das Lachen im Hals stecken bleibt. Die Engelsstimme ist verschwunden.
    Abermals atmest du das Helium ein. Keine Angst, sagst du dir. »Er wird dich dafür nicht schlagen, nur zurechtweisen. Ein Wort darf falsch sein. Erst beim zweiten Wort fasst er dich an. Schnell legst du die Blätter vom zweiten Stapel wieder vor dich hin, schiebst den Karton auf die linke obere Zeile und beginnst: » Accendere , Präsens – accendo, accendis, accendit, accendimus, accenditis, accendunt . Imperfekt – …«
    ***
    Kurz nach sieben Uhr klingelte es an der Haustür. Treidler drückte sofort auf den Summer.
    Er öffnete die Wohnungstür und wartete, bis Melchior die Treppen erklommen hatte.
    »Hallo, Kollege«, begrüßte sie ihn. »Das hat schon fast etwas von einem konspirativen Treffen. Finden Sie nicht auch?« Statt der dunkelbraunen Lederjacke trug sie einen halblangen schneeweißen Steppmantel mit Pelzbesatz an Kapuze und Ärmeln.
    »Sind Sie hierher gelaufen?«, fragte er.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Ihre neuen Winterstiefel sind voller Schnee.«
    »Oh, Entschuldigung, das tut mir leid. Ich mache Ihnen jetzt sicher den Boden nass.«
    »Nein, kein Problem. Aber woher wissen Sie überhaupt, wo ich wohne?«
    »Die Schober hat mir Ihre Adresse gegeben.«
    »Die Schober? Dann weiß morgen jeder in der Polizeidirektion, dass Sie heute Abend bei mir waren.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Soll ich deswegen wieder gehen?«
    »Natürlich nicht.« Er antwortete eine Spur zu hastig.
    Melchior schlüpfte aus ihrem Steppmantel. Darunter kam ein schlichter lilafarbener Rollkragenpullover zum Vorschein, der in Verbindung mit der eng anliegenden Jeanshose ihre Figur in angenehm natürlicher Weise betonte. Jetzt erst bemerkte Treidler ihre offenen Haare. So hatte er sie noch nie gesehen. Sie besaß wunderschöne, seidene Haare und wirkte ohne Haarknoten noch mädchenhafter als sonst.
    Melchior musste aufgefallen sein, dass sein Blick etwas zu lange an ihr hängen blieb, denn sie lächelte verlegen und drückte ihm den Mantel in die Hand.
    Er deutete zur Wohnzimmercouch.
    Melchior nahm Platz, schlug die Beine übereinander und schaute sich um. »Sie sind einer der wenigen Männer, die zwei Tage vor Heiligabend schon Geschenke gekauft haben.« Sie schaute zum Regal, wo in der obersten Reihe ein kleines, mit rotem Weihnachtspapier umwickeltes Päckchen lag.
    Treidler folgte ihrem Blick und schüttelte jäh den Kopf. »Nein, das ist von Lisa.«
    »Oh, wie dumm von mir«, entfuhr es ihr.
    »Ich habe es nie ausgepackt.«
    »Tut mir leid, dass ich davon angefangen habe.«
    »Das muss Ihnen nicht leidtun. Sie konnten es ja nicht wissen. Wer bewahrt schon Weihnachtsgeschenke zwei Jahre lang unausgepackt auf?«
    Für einen kurzen Moment breitete sich Schweigen aus. »Wollen Sie es gleich hören?«, fragte Melchior schließlich.
    »Was hören?« Treidler legte den Mantel über einen der Sessel und nahm ihr gegenüber auf dem anderen Platz.
    »Na, die Aufnahme«, antwortete Melchior.
    »Ach so, die Aufnahme. Ja, natürlich«, beeilte sich Treidler zu sagen.
    Melchior fischte ihr Mobiltelefon aus der Hosentasche und drückte ein paar Tasten, bis ein Rauschen aus dem kleinen Gerät drang. Wenig später ertönte ein Zischlaut, der in einem leisen Säuseln endete. Das war der Augenblick, in dem der Sanitäter das Ventil der Sauerstoffflasche geschlossen hatte. Ein paar Sekunden später erklang Treidlers eigene Stimme, und die Aufnahme brach ab.
    »Und?«, fragte sie.
    »Das Öffnen des Ventils. Genau dieses Geräusch ist auch auf dem Notruf zu hören.«
    »Kann ich mir Ihre Aufzeichnung anhören?« In Melchiors Stimme schwang Unsicherheit.
    Treidler zögerte. Nicht, weil er sich zu schwach fühlte, um die Aufnahme ein weiteres Mal anzuhören. Aber dieser Notruf war etwas Intimes, wie die letzte Umarmung, der letzte Kuss Lisas. Ihn jetzt

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