Schwarzer Regen
neonbeleuchteten Flur vor Paulys Wohnungstür. Fabienne hatte plötzlich Angst zu klingeln. Was, wenn der Typ wirklich der Entführer war und Verdacht schöpfte? Vielleicht hielt er Yvi im Keller versteckt oder in einem Schuppen irgendwo auf einem alten Fabrikgelände. Wie konnten zwei Frauen ihn überführen? »Vielleicht … vielleicht sollten wir doch lieber zur Polizei gehen.«
»Blödsinn!«, sagte Nora. »Ich stelle ihn jetzt zur Rede!« Sie holte das Pfefferspray aus der Tasche und verbarg es hinter dem Rücken. Ehe Fabienne sie daran hindern konnte, klingelte sie an Paulys Tür. Ihr Gesicht zeigte eine erbarmungslose Entschlossenheit.
Pauly öffnete. »Ja?«
Nora hielt ihm die Spraydose vors Gesicht. »Wo ist sie?«, schrie sie. »Was hast du mit ihr gemacht, du Schwein?«
Pauly reagierte blitzschnell. Er packte ihr Handgelenk und drehte Nora den Arm auf den Rücken. Die Spraydose fiel zu Boden. »Seien Sie froh, dass ich nicht der bin, den Sie suchen«, sagte er mit ruhiger Stimme.
»Lassen Sie mich los!«, schrie Nora. »Sie tun mir weh!«
Fabienne sah ihre Chance. Sie schob sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Yvonne?«
»Heh!«, protestierte er. »Was soll das? Dazu haben Sie kein Recht!«
Fabienne ignorierte ihn und öffnete die Tür am anderen Ende des kleinen Flurs. Das Wohnzimmer wirkte kahl und schmucklos. Ein einzelnes Sofa und ein Couchtisch sowie ein paar niedrige Bücherregale bildeten die einzige Einrichtung. Auf dem Fensterbrett stand eine einzelne Topfpflanze. Daneben lagen ein großes Fernglas und ein stabförmiger schwarzer Gegenstand mit einer Art Pistolengriff, der an ein kleines elektrisches Gerät angeschlossen war. Irgendwie erinnerte sie das Ding an Filme über Geheimagenten. » |55| Yvonne?«, rief sie erneut, erhielt jedoch keine Antwort.
Eine halb geöffnete Tür führte ins Schlafzimmer. Das Bett war zerwühlt, das Fenster geschlossen und die schweren, dunklen Vorhänge waren zugezogen, so dass eine trübe Beleuchtung herrschte. Ein schaler Geruch erfüllte den Raum. An der Wand neben der Tür stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Laptop und einem Laserdrucker. Die ganze Wand über dem Schreibtisch war mit Fotos bedeckt, die mit Nadeln an der Raufasertapete befestigt waren.
Fabienne erschrak, als sie die Bilder genauer betrachtete.
Sie spürte mehr, als dass sie hörte, wie Pauly den Raum betrat. Die schniefende und keuchende Nora folgte ihm.
Sie fuhr herum. Er stand mit gesenktem Kopf da. Nora kam neugierig näher und betrachtete die Bilder. »Das gibt’s doch nicht!«, rief sie aus.
»Was soll das?«, fragte Fabienne.
»Es … es ist nicht so, wie Sie denken«, sagte Pauly. »Ich beobachte nur. Ich tue den Menschen nichts. Ehrlich!«
»Du perverser Spanner!«, schrie Nora, auch wenn keines der Bilder einen nackten Menschen zeigte.
Pauly setzte sich auf das ungemachte Bett. »Ich … ich …«, begann er. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie würden es nicht verstehen.«
Fabienne betrachtete ihn, wie er dasaß, den Blick gesenkt, schuldbewusst. Sie wusste plötzlich, dass er einsam war, isoliert von all den Menschen, die er beobachtete. Das Bild einer Tarotkarte drängte in ihr Bewusstsein, überlagerte sich mit seinem Anblick, und auf einmal hatte sie den Eindruck, dort auf dem Bett einen alten Mann sitzen zu sehen, in einer Hand einen Stab, in der anderen eine Laterne. Er war der Eremit.
»Ich habe mich geirrt«, sagte sie. »Er war es nicht.«
»Woher willst du das wissen?«, schrie Nora, die offensichtlich |56| nicht bereit war zu akzeptieren, dass sie kein bisschen weiter gekommen waren. »Dieses perverse Arschloch beobachtet uns seit Monaten heimlich! Da, da ist ein Foto von ihr. Max ist auch drauf! Der Typ gehört in eine Anstalt!«
»Ich kann Ihnen vielleicht helfen, Ihre Tochter wiederzufinden«, sagte Pauly leise.
Nora starrte ihn an. »Helfen? Sie? Wie das denn?«
Er blickte zu ihr auf. Die Scham in seinen Augen war deutlich zu erkennen, doch er hielt ihrem Blick stand. »Ich bin Detektiv. Ich arbeite in einer Firma zur Abwehr von Industriespionage. Ich beobachte die Bewohner dieses Blocks seit langem. Ich kenne ihre Gewohnheiten, ihre Lebensrhythmen. Ich gebe zu, dass das moralisch fragwürdig ist, aber so ist es nun mal.«
»Wissen Sie nun, wo Yvonne ist, oder nicht?«, rief Nora.
»Ich weiß es nicht genau. Aber ich habe einen Verdacht.«
»Wer? Wo ist sie?« Nora war außer sich. Fabienne hatte Angst, dass sie Pauly im nächsten Moment an
Weitere Kostenlose Bücher