Schwarzer Regen
den Hals springen würde, möglicherweise mit schmerzhaften Folgen für sie selbst.
»Nein, so nicht«, sagte er, und seine Stimme klang auf einmal fest. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie auf ihn losgehen!«
»Auf wen?«, schrie Nora. »Sag es endlich, du Schwein!«
Pauly ließ sich nicht beeindrucken. »Sie gehen jetzt wieder in Ihre Wohnung. Ich bin spätestens in einer Viertelstunde bei Ihnen, entweder mit Ihrer Tochter oder ohne sie. Aber ich mache das alleine.«
Nora schluchzte. »Ich … ich halte das nicht aus!«
Fabienne nahm sie in den Arm. »Es ist okay. Lass ihn machen. Du hast ja gesehen, dass er mit einem Gegner fertig werden kann.« Sie drehte sich zu Pauly um. »Wenn Sie uns verarschen, dann werde ich den übrigen Hausbewohnern |57| erzählen, was ich hier gesehen habe. Ich bin mir sicher, die werden nicht begeistert sein!«
Pauly nickte. »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich das Mädchen finde. Aber ich werde es versuchen, das versichere ich Ihnen!«
|58| 6.
Mit bleischweren Gliedern schloss Lennard Pauly die Tür hinter den beiden Frauen und lehnte sich dagegen. Schweiß perlte auf seiner Stirn.
Er atmete tief durch. Er konnte es jetzt nicht mehr ändern. Im Grunde war ihm immer klar gewesen, dass er irgendwann auffliegen würde. Er konnte von Glück sagen, dass es die beiden Frauen gewesen waren, die sein Geheimnis entdeckt hatten, und nicht irgendein eifersüchtiger Ehemann.
Nein, genau genommen wäre es ihm lieber gewesen, er hätte eine ordentliche Tracht Prügel bezogen. Dass ausgerechnet Fabienne Berger die Bilder als Erste gesehen hatte, war das Schrecklichste, das hätte passieren können. Die Abscheu in ihren Augen hatte ihn bis ins Mark erschüttert.
Warum war er nur so dumm gewesen, seine Wand mit Ausdrucken der Fotos zu tapezieren! Er bekam nie Besuch, aber er hatte doch eigentlich immer damit rechnen müssen, dass mal jemand in die Wohnung kam. Er riss die Bilder von der Wand, als könne er damit noch irgendetwas ändern. Dann griff er sich sein Spezialwerkzeug und machte sich auf den Weg.
Sein Ziel war eine Wohnung im dritten Stock. »Stefan Hintermann« stand auf dem Namensschild. Er betätigte den Klingelknopf, doch, wie erwartet, öffnete niemand. Wahrscheinlich war auch Fabienne Berger schon hier gewesen und hatte vergeblich geklingelt. Er legte das Ohr ans Türblatt. Von drinnen erklang Musik, vermutlich ein Radio. Er klingelte noch einmal. Nach einer Minute holte |59| er das Spezialwerkzeug hervor, das wie ein akkugetriebener kleiner Bohrer aussah, und führte es in das Schloss ein.
In weniger als fünfzehn Sekunden war die Tür offen. Die Hausverwaltung hatte es nie für nötig befunden, die Wohnungen mit modernen Schlössern zu sichern. Er steckte das Werkzeug wieder ein und betrat leise den kleinen Flur. Der Geruch einer schlecht belüfteten Junggesellenwohnung schlug ihm entgegen.
Sie hatte exakt denselben Grundriss wie seine eigene: rechts das Bad, links die kleine Küche, geradeaus das Wohnzimmer mit dem Durchgang zum kleinen Schlafzimmer. Insgesamt etwa fünfzig Quadratmeter für eine Kaltmiete von 375 Euro. Der Flur war unaufgeräumt. Männerschuhe lagen durcheinandergewürfelt herum, aus einem Plastikeimer quoll schmutzige Wäsche, in einer Ecke stapelten sich alte Zeitungen.
Lennard schlich bis zur Wohnzimmertür und lauschte. Über irgendwelchem Elektropop aus den Achtzigern hörte er die Stimme eines älteren Mannes: »Du bist dran!« Und einen Augenblick später eine helle, fröhliche Mädchenstimme: »Drei, vier, fünf! Du bist rausgeschmissen! Ätschibätsch!«
Er hatte recht gehabt. Als die beiden Frauen in seiner Wohnung gewesen waren, im Moment seiner schlimmsten Erniedrigung, hatte er es plötzlich vor sich gesehen: Hintermann, wie er vor ein paar Tagen auf seinem Balkon gestanden und mit verklärtem Blick hinunter auf den Spielplatz gestarrt hatte, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. In der Hand hatte er ein kleines rosa Pony aus Plastik mit absurd langer Mähne gehalten. Sicher hatte er Yvonne heute damit hergelockt.
Dieses Schwein! Heiße Wut durchschoss Lennards angespannten Körper. Er atmete tief durch, konzentrierte sich.
»Na warte!«, sagte Hintermann. »Das kriegst du …«
Weiter kam er nicht. Lennard stieß die Tür auf. In Sekundenbruchteilen |60| erfasste er die Situation: Den runden Esstisch, an dem Hintermann und das Mädchen saßen, den altmodischen Sessel vor den hohen, überquellenden Bücherregalen, die Stapel
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