Schwarzer Regen
sagte ein junger Polizist, der letzte Nacht offenbar auch nicht geschlafen hatte.
|165| »Ich muss zu meinem Sohn«, sagte Lennard. »Bitte!«
»Ihr Sohn ist mit Sicherheit nicht in Ettlingen. Die Stadt wurde vollständig evakuiert.«
»Wo haben sie die Menschen hingebracht?«
»Das kommt drauf an.«
Lennard zwang sich, geduldig zu bleiben. Der arme Kerl, er konnte kaum zwanzig Jahre alt sein, war sicher völlig überfordert mit der Situation, auf die ihn niemand vorbereitet hatte. »Worauf kommt es an?«
»Ob er verletzt ist. Die Verwundeten wurden in Auffanglager in der Nähe gebracht. Der Rest ist in Behelfsunterkünften in den Orten der Umgebung untergebracht worden. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Am besten rufen Sie die zentrale Auskunftsstelle an. Die Nummer ist …«
Lennard schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Nummer. Da ist die ganze Nacht besetzt gewesen.«
Der Polizist zuckte mit den Schultern. »Tut mir wirklich leid. Das … das hier ist …« Seine Stimme brach plötzlich, und er begann zu weinen. Nach einem Moment fing er sich. »Entschuldigen Sie, aber … ich kann einfach nicht mehr …«
Lennard stieg aus dem Auto. Er schenkte dem Polizisten einen Becher Kaffee aus seiner Thermoskanne ein.
Der junge Mann trank den nur noch lauwarmen Kaffee in einem Zug. »Danke!« Er gab den leeren Becher zurück. »Warten Sie«, sagte er, als Lennard gerade wieder in den Wagen steigen wollte. »Vielleicht kann ich bei der Zentrale nachfragen. Wie heißt denn Ihr Sohn? Und wann ist er geboren?«
Lennard sagte es ihm.
Der Polizist ging zu seinem Einsatzwagen. Kurz darauf kehrte er zurück. »Ihr Sohn wurde in ein Aufnahmelager des Roten Kreuzes in der Nähe von Bruchsal gebracht. Ich |166| habe Ihnen die Adresse aufgeschrieben. Am besten fahren Sie zurück nach Pforzheim und nehmen die B 294 Richtung Bretten. Dann fragen Sie am besten noch mal.« Er reichte Lennard den Zettel.
»Vielen Dank, ich habe ein Navigationssystem. Ich finde das.«
»Ich bezweifle, dass Ihnen das Navi viel nützt – die meisten Straßen hier in der Gegend sind gesperrt. Stellen Sie sich lieber darauf ein, dass es eine Weile dauert, bis Sie dort sind.«
»Das werde ich. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Der Polizist lächelte flüchtig. »Danke für den Kaffee. Ich hoffe, Ihrem Sohn geht es gut.«
Lennard konnte nicht antworten. Ben war in einem Lager des Roten Kreuzes untergebracht worden. Sein Sohn war also verletzt.
Er stieg in den Wagen, winkte dem Polizisten zum Abschied und machte sich auf den Weg.
|167| 37.
Corinna Fallers Handy klingelte – irgendeine blöde Melodie aus den aktuellen Charts. Oskar, der in der Redaktion für Technik zuständig war, hatte sie ihr eingestellt.
Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Nur langsam kehrte die Erinnerung zurück. In der Nacht hatte ihr eine Krankenpflegerin eine Schlaftablette gegeben.
»Faller?«
»Hier ist Andreas. Wo bist du?«
Faller versuchte, sich zu erinnern. »Ich bin … in so einem Lager. Vom Roten Kreuz. In der Nähe von Bruchsal.« Sie fuhr sich durch ihr langes schwarzes Haar.
»Was ist mit dir? Du klingst irgendwie seltsam. Bist du verletzt?«
Sie antwortete nicht, starrte nur auf ihre linke Hand, an der eine lange, dicke Haarsträhne hing. Ein seltsames würgendes Geräusch entrang sich ihrer Kehle. Sie ließ das Handy fallen. »O nein!«, schrie sie. »Nein!«
Eine Pflegerin, die sich um eine schwerverwundete Patientin ein paar Betten weiter kümmerte, sah kurz auf und wandte sich dann wieder den Bandagen zu, die sie gerade wechselte. Offenbar war sie diese Reaktion inzwischen gewohnt.
Faller stand auf. Ihre Beine fühlten sich an wie Pudding. »Ein … ein Spiegel«, rief sie. »Gibt es hier einen Spiegel?«
Niemand antwortete. Sie stolperte durch die langen Reihen der Feldbetten. Draußen waren in der Nacht Container mit Duschen und Toiletten aufgestellt worden. Faller |168| betrat einen dieser Container und blickte in den Spiegel über einem Waschbecken.
Fassungslos starrte sie die Person an, die ihr da entgegenblickte. Das Haar hing in dünnen Fetzen von ihrem teilweise schon kahlen Kopf. Ihr Gesicht war grau und fleckig, die Augen blutunterlaufen. Ihre Unterlippe zitterte.
Sie musste sich am Rand des Waschbeckens festhalten, um nicht auf den Boden zu sinken.
In diesem Moment schlurfte eine Patientin an ihr vorüber. Ihr Kopf war einbandagiert, und sie bewegte
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