Schwarzer Regen
sich langsam, wie unter großen Schmerzen.
Faller wurde klar, dass sie noch Glück gehabt hatte. Großes Glück sogar, wenn sie an den dicken Pressesprecher dachte, der auf der Stelle getötet worden war. Wut stieg in ihr auf, dunkle, kalte Wut. Es gab keine Strafe, die hart genug war, um die Schweine, die ihr das angetan hatten, zur Rechenschaft zu ziehen!
Die Wut gab ihr Kraft. Sie war Journalistin, verdammt noch mal. Sie würde den Tatsachen ins Auge blicken und sich nicht mehr von ihnen erschrecken lassen. Ihre Haare würden schon wieder nachwachsen.
Sie rief Andreas an und sagte ihm, er solle ihr unterwegs Jeans, ein Sweatshirt und eine Mütze besorgen.
»Eine Mütze? Warum das denn?«
»Frag nicht, tu es einfach. Und dann komm so schnell wie möglich her.«
»Okay. Bis gleich.«
Er kam erst zwei Stunden später an. Sie trafen sich am Eingang des bereits enorm angewachsenen Lagers. Immer noch schafften Transporter der Bundeswehr Material heran, immer noch waren Soldaten dabei, Container und Zelte aufzustellen.
Andreas entschuldigte sich für die Verspätung. Auf den |169| Straßen herrsche nach wie vor Verkehrschaos. Immerhin hatte er ihr tatsächlich etwas zum Anziehen und auch eine Mütze mitgebracht.
Faller nahm das Tuch ab, mit dem sie ihren Kopf verhüllt hatte. Sie hatte sich die letzten Haare mit einer Schere abgeschnitten, so dass von ihrem fast kahlen Schädel nur noch ein paar kurze Fransen abstanden. Andreas wurde blass, als er das sah, doch er hatte den Anstand, die Klappe zu halten. Rasch zog sie sich um. Trotz der schlabberigen Jeans und des grellbunten Sweatshirts, die der Fotograf auf dem Wühltisch eines Billigmarkts erstanden haben musste, fühlte sie sich besser. Nur die Mütze juckte etwas.
»Lass uns anfangen«, sagte sie.
Sie begannen mit einer Pflegerin, die mit leerem Blick auf einer Kiste saß und eine Zigarette rauchte. Andreas schoss ein paar Bilder, bevor Faller sie ansprach. Die Frau erzählte ihnen von der längsten und schlimmsten Nacht ihres Lebens, von verstümmelten Kindern, Männern, deren Gedärme durch die aufgeschlitzte Bauchdecke heraushingen, und anderen, die am ganzen Körper handtellergroße Brandblasen hatten. Sie erfuhren, dass die Frau in Heidelberg Medizin studierte und gerade ein Praktikum beim Roten Kreuz absolvierte. Zu ihrer Verblüffung hörte Faller, dass sie erst zweiundzwanzig Jahre alt war – sie wirkte wesentlich älter. »Leid macht alt«, notierte Faller auf dem Notizblock, den ihr Andreas mitgebracht hatte.
Noch schrecklicher waren die Geschichten der Patienten. Ein Mann hatte Frau und Kinder in seinem brennenden Haus zurücklassen müssen. Er höre immerzu nur ihre Hilfeschreie, sagte er weinend, und bat darum, ihm endlich die gewünschte Überdosis Beruhigungsmittel zu geben, damit er wieder zu seiner Familie konnte.
Während sie mit dem lebensmüden Vater sprachen, kam ein kleiner Junge zu ihnen. Er zupfte Faller am Arm. |170| »Guten Tag. Ich bin Niklas Färber. Ich wohne in der Fliederstraße 15. Haben Sie vielleicht meine Mutter gesehen?«
Die Journalistin sah ihn an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also schüttelte sie nur langsam den Kopf, während Andreas ein paar Fotos machte.
Mit hängendem Kopf ging der Junge weiter. Faller sah sich um. Gab es denn hier keinen, der die Kinder psychologisch betreute, verdammt? Doch als sie an die Geschichte der Pflegerin dachte, wurde ihr klar, dass noch niemand Zeit haben konnte, sich um seelische Wunden zu kümmern. Zuerst mussten die körperlichen versorgt, möglichst viele Leben gerettet werden.
Eine alte Frau saß auf ihrem Feldbett und schüttelte immer wieder den Kopf. Zuerst hatte Faller den Eindruck, sie sei verwirrt, doch als sie die Frau ansprach, blickte diese mit klaren Augen auf.
»Er war noch so jung«, sagte sie.
»Wer?«
»Herr Köster. Er hat sich immer so lieb um mich gekümmert. Er ist … war Pfleger im Heim Rosengarten, in dem ich gewohnt habe. Zivildienst hat er gemacht. Wir haben gerade über den Tod gesprochen, als es passiert ist.«
»Über den Tod?«
»Ich habe Darmkrebs«, sagte die Frau ohne jeden Anflug von Sorge. »Endstadium. Noch ein paar Wochen, haben die Ärzte gesagt, das war vor vier Monaten. Ich bin zweiundachtzig, wissen Sie, da gewöhnt man sich an den Gedanken, dass es irgendwann Zeit ist zu gehen. Aber er wollte mich trösten.« Sie lächelte bei dem Gedanken, doch ihr Gesicht fiel in sich zusammen, als sie daran dachte, was danach
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