Schwarzer Regen
dir.«
Ben keuchte. Er flüsterte etwas, das Lennard nicht verstand.
»Wie bitte?«
»Bleibst … du … jetzt … bei uns?«
Lennard setzte sich ruckartig auf. Er hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen.
All die Jahre hatte er sich eingeredet, Ben gehe es gut, er sei glücklich in seiner neuen Familie, er habe seinen richtigen Vater rasch vergessen. Doch Bens Worte rissen den Schleier der Illusion beiseite und offenbarten die schreckliche Wirklichkeit: Sein Sohn hatte ihn die ganze Zeit vermisst, immer auf seine Rückkehr gehofft.
Er hatte Ben im Stich gelassen.
Es dauerte einen Moment, bis er die Kraft zum Sprechen fand. »Ja«, sagte er, während die Tränen über sein Gesicht strömten. »Ich bleibe jetzt bei dir!«
Bens schmaler Mund verzog sich zur Andeutung eines Lächelns. »Gut«, sagte er, laut genug, dass Lennard es auch, ohne sich vorzubeugen, verstehen konnte. Dann schloss er die Augen, und sein Gesicht entspannte sich.
Lennard wusste nicht, wie lange er reglos dagesessen und seinen schlafenden Sohn betrachtet hatte, als ihn jemand leicht an der Schulter berührte. Er drehte sich um. Die Pflegerin sah ihn mit sorgenvollem Gesicht an. »Möchten Sie etwas essen? Einen Kaffee vielleicht?«
|175| Lennard schüttelte den Kopf. »Ich kann hier nicht weg«, sagte er. »Mein Sohn …«
Die Pflegerin beugte sich über Ben, betastete sein Handgelenk, seinen Hals. Sie blickte Lennard direkt in die Augen. Sie hatte keine Zeit für sanfte, schonende Worte.
»Ihr Sohn ist tot.«
Lennard saß nur da, ohne zu begreifen, was sie gesagt hatte. Unfähig, sich zu rühren, zu sprechen, zu denken.
|176| 39.
Es war seltsam still. Fabienne öffnete die Fenster. Der Verkehr schien viel spärlicher zu fließen als sonst. Auch Flugzeuge im Anflug auf Fuhlsbüttel waren nicht auszumachen. Die Sommerluft war warm, die Vögel zwitscherten. Max spielte in Yvonnes Zimmer mit Lego. Alles sah nach einem weiteren herrlichen Sommertag aus, doch der Spielplatz draußen war leer, niemand vergnügte sich in dem kleinen Park.
Sie hatte nicht einmal im Laden angerufen, um zu sagen, dass sie nicht kommen würde. Die Vorstellung, heute zur Arbeit zu gehen wie an einem ganz gewöhnlichen Tag, war einfach zu absurd.
Nora saß im Bademantel am Frühstückstisch und rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee. Plötzlich stand sie auf, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
»Bist du sicher, dass du das sehen willst?«, fragte Fabienne.
Nora sagte nichts. Sie setzte sich auf das Sofa und starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf die Bilder. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen bestimmten Kanal zu wählen. Wozu auch – alle Sender brachten ohnehin dasselbe Programm.
»… können Sie hier sehr schön sehen«, sagte ein dicker Mann mit gelber Fliege und zu kurzem Jackett gerade, während er mit dem Finger auf das Satellitenbild von Deutschland zeigte. An der südwestlichen Seite, genau dort, wo sich Deutschland vom Rhein aus nach Westen ausbeulte, war ein dicker schwarzer Fleck zu erkennen, als hätte dort jemand Tinte verschüttet.
|177| »Die Wolke ist im Laufe der Nacht nach Nordwesten gezogen und hat sich dabei weiter ausgebreitet. Inzwischen ist ein Gebiet von mindestens tausend Quadratkilometern betroffen, dessen Ausläufer bereits bis nach Worms reichen. Die Zone des maximalen Fallouts liegt zurzeit über Mannheim und Heidelberg.«
»Was bedeutet das für die Menschen in den betroffenen Gebieten?«, wollte der Moderator wissen – ein junger Schönling, der sich alle Mühe gab, ein der Situation angemessenes ernstes Gesicht zu machen.
»Ich kann mich nur den offiziellen Warnungen anschließen«, sagte der Dicke, offensichtlich ein Wissenschaftler, der gerade seinen ersten Fernsehauftritt hatte. »Die Menschen sollten Türen und Fenster geschlossen halten und auf keinen Fall ins Freie gehen. Der Regen ist hochgradig kontaminiert …«
»Sie meinen, er ist radioaktiv verseucht«, warf der Moderator ein.
Der Experte nickte, etwas irritiert. »Wenn Sie so wollen. Kontakt mit der Haut kann bereits zu Verstrahlungen führen, die im schlimmsten Fall Krebs auslösen können. Durch das darin gelöste Plutonium ist der Regen hochgiftig. Wer versehentlich etwas von der Flüssigkeit aufgenommen hat, und seien es auch nur ein paar Tropfen, sollte sofort einen Arzt aufsuchen. Auch wenn es nicht regnet, bringt die Wolke Staubpartikel mit, die langsam zu Boden schweben. Ich kann leider nichts
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