Schwarzer Regen
passiert war.
»›Sie werden sehen, Frau Franke, im Himmel ist es wunderschön‹, hat er gesagt. ›Sie brauchen keine Angst zu haben.‹ ›Ich habe keine Angst‹, habe ich ihm geantwortet. |171| ›Aber einen Himmel gibt es nicht, genauso wenig wie die Hölle. Ich brauche solche Märchen nicht. Meine Zeit ist reif, das ist schon okay so. Ich habe ein schönes Leben gehabt. Ich meine, was ist schon dabei, tot zu sein? Das ist doch nicht anders als vor der Geburt, oder?‹ Er hat mich ganz erschrocken angesehen, wusste nicht, was er sagen sollte. Er hat den Mund aufgemacht, aber es kam nichts mehr heraus, denn in dem Moment explodierte das ganze Haus. Der Schrank fiel auf ihn drauf, und er hat nichts mehr gesagt.« Sie schüttelte wieder den Kopf, Tränen in den Augen. »Er war doch noch so jung. Er hat versucht, mich zu trösten. Und jetzt ist er tot, und ich lebe noch mit meinem verdammten Darmkrebs. Eine Scheiße ist das! Eine gottverdammte Scheiße!«
|172| 38.
Ben war schwindelig und übel. Sein Kopf dröhnte wie nach einer durchzechten Nacht. Seine Augen konnten sich nicht richtig fokussieren, so dass er seine Umgebung wie durch eine falsche Brille wahrnahm. Wo war der verdammte Kotzeimer? Er tastete danach, fand ihn, beugte sich darüber, würgte, doch es kam nichts. Verdammter Mist!
Jemand stand an seinem Bett. Langsam drehte er sich um, kniff die Augen zusammen und versuchte, die Person zu erkennen. Ein Arzt? Aber er trug keine weiße Kleidung, und auch nicht das Lindgrün der Patienten. Stattdessen Jeans und ein schwarzes Polohemd.
»Ben«, sagte die Gestalt. Nur dieses eine Wort.
Es löste eine Flut von Emotionen aus, die ihn seine Übelkeit und die elenden Kopfschmerzen für einen Moment vergessen ließen. Liebe, Verzweiflung, Enttäuschung, Wut, Hoffnung, Verbitterung. All das.
»Papa«, wollte er sagen, doch aus seiner Kehle kam nur ein Krächzen.
Die Gestalt setzte sich auf sein Bett. Verdammt, was war nur mit seinen Augen los? Nach all den Jahren war sein Vater endlich gekommen, und jetzt konnte er ihn nicht mal erkennen!
Eine zögernde Hand tastete nach seiner. Die Berührung schmerzte, doch um nichts in der Welt hätte Ben seine Hand zurückgezogen. Sein Vater war gekommen! Er war endlich gekommen!
Mit zugeschnürter Kehle starrte Lennard auf das Wesen, das da vor ihm ausgestreckt lag. Er wollte der Pflegerin |173| sagen, dass sie sich geirrt hatte. Das hier war nicht sein Sohn. Er konnte es nicht sein.
Überdeutlich sah er das Bild vor sich, das für immer in sein Gedächtnis graviert war: der siebenjährige Ben mit wuscheligem Lockenkopf, der ihm zum Abschied fröhlich zuwinkte, der nicht wusste, dass er seinen Vater nie wiedersehen würde.
Nichts von diesem Bild fand sich in dem schlaffen, glatzköpfigen, viel zu alten Körper wieder, der vor ihm auf dem Feldbett lag. Die graue Haut, die fahlen, bläulich angelaufenen Lippen, die violetten Flecken am ganzen Körper, als habe er eine wilde Schlägerei hinter sich, die Augen, die irgendwie leer wirkten. Nur die Farbe der Iris stimmte, und das halbmondförmige Muttermal am Halsansatz, das er schon bei der Geburt gehabt hatte.
Bens Blick wanderte in seine Richtung, doch er schien ihn nicht zu erkennen.
»Ben«, sagte Lennard. Es war schwer für ihn, den Namen über seine Lippen zu bringen.
Ben krächzte etwas, das Lennard nicht verstand.
Der Boden schwankte unter seinen Füßen. Er setzte sich auf das Feldbett, überwand die Abscheu vor dem kranken Körper und umfasste vorsichtig die Hand seines Sohnes. Ein Schatten glitt über das müde Gesicht, als täte ihm die Berührung weh, doch er zog die Hand nicht zurück.
Lennard hatte sich nicht getraut, die Pflegerin, die ihn hergeführt hatte, zu fragen, wie schlimm es um Ben stand. Jetzt war das nicht mehr nötig. Es war offensichtlich, dass sein Sohn todkrank war.
»Mein Gott, was haben sie mit dir gemacht«, flüsterte er mehr zu sich selbst.
Bens Lippen bewegten sich. Über das Stöhnen und Jammern der anderen Patienten und das Knattern der Hubschrauber, die immer noch neue Verletzte einflogen, konnte |174| Lennard nichts verstehen. Er beugte sich vor, ganz nah an Bens Gesicht. Ein schrecklicher Geruch schlug ihm entgegen, so als sei der Körper unter ihm schon mitten im Prozess der Verwesung.
»Wo … ist Mama …«, wisperte sein Sohn.
Lennard hatte keine Ahnung. Er hatte bisher nicht mal versucht, es herauszufinden. »Es geht ihr gut«, sagte er. »Sie kommt bald zu
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