Schwarzer Regen
sie
tun? Wir mußten zuerst an uns selber denken. Ich schritt vorsichtig über die
Beine der Toten, um das kleine Mädchen nicht zu ängstigen, und ging schnell
zehn Meter flußabwärts. Hier sah ich mehrere tote Frauen in den Büschen liegen,
dazwischen kauerte ein Junge von fünf oder sechs Jahren, als wäre er inmitten
der Leichen eingekeilt. „Kommt weiter“, rief ich und winkte mit beiden Armen
den zwei Frauen, die immer noch zögerten. „Steigt so sachte wie möglich rüber,
und kommt weiter.“ Beide stiegen dann über den Leichnam und kamen zu mir.
Am Ende der Aioi-Brücke fanden wir einen
Kutscher mit dem vor seinen Karren gespannten Ochsen auf den Straßenbahnschienen, beide tot. Die Seile um die
Ladung hatten sich gelöst, und die Sachen waren geplündert. Auch hier kamen
Leichen den Fluß herabgeschwommen; ein grausiges Bild, wie sie mit dem Kopf
gegen die Brückenpfeiler stießen und dann im Wasser kreiselten. Etwa in der
Mitte hatte die Brücke einen Buckel, vielleicht einen Meter hoch, und wie auf
dem Kamm einer Woge lag da ein junger Ausländer mit blonden Haaren, tot, die
Arme über den Kopf geschlagen. Der Brückenbelag schlug überall Wellen.
Bei Sakan-cho und Sorazaya-cho konnte man sehen,
wie die Flammen über das ganze Gebiet gefegt waren. Leichen in allen denkbaren
Stellungen lagen umher — eine mit bis auf die Knochen verbranntem Oberkörper,
eine andere, nur noch Skelett bis auf ein Bein und einen Arm, wieder eine
andere mit dem Gesicht nach unten gekehrt, die Beine vom Knie ab verkohlt, noch
eine mit völlig verbrannten Beinen. So übel einem auch wurde von dem Gestank,
man mußte hindurch.
In Tera-machi, dem „Tempelviertel“, stand kein
einziger Tempel mehr. Nur Lehmwände waren übriggeblieben, so zerbröckelt und
zusammengefallen, daß man sie kaum noch erkennen konnte, und ehrwürdige Bäume
mit aufgesplitterten Stämmen und Ästen, bei denen das nackte Holz zum Vorschein
kam. Auch der Honganji-Tempel, der größte im ganzen Viertel, war spurlos
verschwunden. Der Rauch, der noch aus der Asche stieg, schwebte bedrohlich über
den bröckligen Mauerresten, hing dann tief über dem Fluß und verwehte am
gegenüberliegenden Ufer.
Auf der anderen Seite der Yokogawa-Brücke
stiegen noch immer Flammen empor. Vom Wind angefacht, wirbelten Feuersäulen
weißglühend aus dem ganzen Gebiet am gegenüberliegenden Ufer in den Himmel.
Unmöglich, da durchzukommen. Die Straße vor uns war völlig blockiert. Die
Stahlträger, die die Brückenbogen bildeten, hatten sich bis zu einer Höhe von
vier oder fünf Metern verfärbt. Neben einem der Brückenpfeiler, auf einer
kleinen Grasfläche, stand ein Pferd mit schweren Brandwunden an Rücken und
Hals. Es zitterte heftig und sah aus, als müßte es jeden Augenblick
zusammenbrechen. Dicht daneben lag ein Leichnam auf dem Bauch, die obere
Körperhälfte verbrannt. Die unversehrte untere Hälfte steckte in Reithosen und
Stiefeln mit Sporen. Die Sporen glänzten wie Gold. Wenn der Besitzer ein
Armeeangehöriger war, dann wohl ein Offizier, wer sonst hätte solche goldenen
Sporen tragen können. Ich malte mir die Szene aus: Der Offizier rannte zum
Stall, sprang auf sein ungesatteltes Pferd, galoppierte los... Wie sehr müssen
Soldat und Pferd aneinander gehangen haben. Wenn es jetzt auch am Verenden war,
schien das Pferd immer noch — oder bildete ich mir das bloß ein — auf ein
Zeichen des Mannes mit den Stiefeln und Sporen zu warten. Welch unermeßlichen
Schmerz muß es erlitten haben, als die westwärts wandernde Sonne erbarmungslos
auf sein verbranntes Fleisch prasselte. Welch eine Anhänglichkeit an den Mann
in Stiefeln! Aber Mitleid konnte ich nicht empfinden, nur Entsetzen.
Uns blieb nichts anderes übrig, als durch den
Fluß zu gehen. Nahe am Ufer wuchsen Grasbüschel, aber an manchen Stellen standen
sie zu weit auseinander, so daß man nicht immer auf trockenen Boden treten
konnte. Wir stiegen ins strömende Wasser und wanderten flußaufwärts. Selbst an
den tiefsten Stellen reichte uns das Wasser nur bis zum Knie. Die Gegend, durch
die wir kamen, konnte Hirose Kitamachi gewesen sein. Auf den sandigen, trockenen
Stellen des Flusses quatschte das Wasser aus unseren Schuhen. Sobald aber ein
Teil Wasser heraus war und das Gehen etwas angenehmer wurde, drang der Sand
ein, und wir wurden fast lahm. Wir hielten es dann doch für besser, einfach
immer im Wasser zu gehen, und platschten ohne Rücksicht drauflos. An einer
kieselübersäten flachen
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