Schwarzer Schmetterling
in die Schuhe schieben wollen?«
»Das liegt doch auf der Hand, oder?«
»Wie meinen Sie das?«
»Jeder Insasse dieser Klinik ist doch der ideale Täter.«
»Finden Sie?«
»Weshalb sprechen Sie das Wort nicht aus?«
»Welches Wort?«
»Das Ihnen durch den Kopf geht.«
»Welches Wort?«
»›Verrückt‹.«
Confiant schwieg.
»›Behämmert‹.«
Confiant schwieg noch immer.
»›Übergeschnappt‹.
›Plemplem‹.
›Durchgeknallt‹.
›Gaga‹.
›Bekloppt‹ …«
»Nun, ich glaube, das genügt«,
warf Dr. Xavier ein.
»Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, sollten wir meinen Patienten jetzt in Frieden lassen.«
»Einen Augenblick, wenn Sie erlauben.«
Sie wandten sich um. Hirtmann hatte nicht lauter gesprochen, aber sein Tonfall hatte sich geändert.
»Ich habe Ihnen auch etwas zu sagen.«
Sie sahen sich gegenseitig an, ehe sie ihn mit fragender Miene anstarrten. Er lächelte nicht mehr.
»Da kommen Sie und wollen mich komplett durchleuchten. Sie fragen sich, ob ich etwas mit den Vorfällen da draußen zu tun habe – was natürlich absurd ist. Sie fühlen sich sauber, anständig, von all Ihren Sünden reingewaschen, weil Sie einem Monster gegenüberstehen. Auch das ist absurd.«
Servaz wechselte einen erstaunten Blick mit Ziegler. Er sah Xavier perplex zuhören. Confiant und Propp warteten ohne Widerrede ab, wie es weiterging.
»Glauben Sie, dass meine Verbrechen Ihre schlechten Taten weniger verwerflich machen? Ihre Engstirnigkeit und Ihre Laster weniger abscheulich? Glauben Sie, dass auf der einen Seite die Mörder, die Vergewaltiger, die Verbrecher stehen und auf der anderen Sie? Sie sollten Folgendes begreifen: Es gibt keine undurchlässige Membran, die das Böse daran hindern würde, sich überall auszubreiten. Es gibt keine zwei Arten von Menschen. Wenn Sie Ihre Frau und Ihre Kinder belügen, wenn Sie Ihre Mutter in ein Altenheim abschieben, um nicht mehr so gebunden zu sein, wenn Sie sich auf dem Rücken der anderen bereichern, wenn Sie nur widerwillig einen Teil Ihres Gehalts an Bedürftige spenden, wenn Sie aus Egoismus oder aus Gleichgültigkeit anderen Menschen Leid zufügen, dann nähern Sie sich schon dem an, was ich bin. Im Grunde stehen Sie mir und den anderen Insassen viel näher, als Sie glauben. Es ist eine Frage der Abstufung, nicht des Seins. Wir alle sind von derselben Natur: der menschlichen Natur.«
Er neigte sich vor und zog ein dickes Buch unter seinem Kopfkissen hervor. Eine Bibel …
»Der Anstaltsgeistliche hat mir das hier gegeben. Er glaubt, sie könnte mich retten.« – Er lachte kurz höhnisch auf. – »Absurd! Denn das Böse in mir ist nichts Individuelles. Das Einzige, was uns retten kann, ist ein nuklearer Holocaust …«
Seine Stimme klang jetzt kräftig, überzeugend, und Servaz konnte sich sehr gut vorstellen, welche Wirkung sie vor Gericht erzielen musste. Seine strenge Miene war wie eine Aufforderung zu Reue und Unterwerfung. Plötzlich waren sie die Sünder und er der Apostel! Sie waren völlig verwirrt. Selbst Xavier schien überrascht zu sein.
»Ich würde mich gern unter vier Augen mit dem Commandanten unterhalten«, sagte Hirtmann plötzlich mit etwas sanfterer Stimme.
Xavier blickte fragend zu Servaz, der mit den Schultern zuckte. Betreten runzelte der Psychiater die Stirn.
»Commandant?«, sagte er.
Servaz nickte zustimmend.
»In Ordnung«, sagte Xavier und ging zur Tür.
Propp zuckte mit den Schultern – wahrscheinlich ärgerte es ihn, dass Hirtmann nicht ihn zum Gespräch gebeten hatte; Confiants Blick war unverkennbar missbilligend. Trotzdem folgten sie dem Psychiater zur Tür. Ziegler ging als Letzte hinaus, wobei sie dem Schweizer einen eisigen Blick zuwarf.
»Hübsches Mädchen«, sagte dieser, als sie die Tür wieder geschlossen hatte.
Servaz schwieg. Er sah sich nervös um.
»Ich kann Ihnen kein Getränk anbieten, keinen Tee oder Kaffee. So etwas habe ich hier nicht. Dabei käme es von Herzen.«
Servaz hatte Lust, ihm zu sagen, mit dem Theater aufzuhören und zur Sache zu kommen, aber er verkniff es sich.
»Welche ist Ihre Lieblingssymphonie?«
»Ich habe keine bestimmte Vorliebe«, antwortete Servaz schroff.
»Wir haben alle eine.«
»Dann sagen wir die Vierte, die Fünfte und die Sechste.«
»Welche Einspielungen?«
»Bernstein natürlich. Inbal ist auch sehr gut. Und Haitink für die Vierte, Wit für die Sechste … Hören Sie …«
»Hmm … Gute Wahl … Andererseits ist das hier gar nicht
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