Schwarzer Schmetterling
Schweizer hatte unbestreitbar eine charismatische Ausstrahlung, aber er hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so wenig nach einem Serienmörder aussah. Hirtmann glich dem Mann, der er gewesen war, als er frei war: ein unerbittlicher Staatsanwalt mit tadellosen Umgangsformen, aber auch ein Genießer, wie sein Mund und sein Kinn zeigten. Nur mit dem Blick stimmte etwas nicht. Schwarz war er. Starr. Augen, die verschlagen funkelten, faltige Lider, die jedoch nicht blinzelten. Der Blick war elektrisch geladen wie ein Taser. Verbrechern mit einem solchen Blick war er schon früher begegnet. Noch nie aber einem Menschen, der einerseits so strahlend und andererseits so zwielichtig war. Zu anderen Zeiten wäre ein solcher Mann wegen Hexerei verbrannt worden, sagte er sich. Heute studierte man ihn, versuchte, ihn zu verstehen. Aber Servaz hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, dass das Böse weder messbar noch durch ein naturwissenschaftliches Prinzip, biologische Prozesse oder eine psychologische Theorie erklärbar war. Die sogenannten Freigeister behaupteten, es existiere nicht; sie erklärten es zu einer Art Aberglauben, einer irrationalen Vorstellung geistig unterbelichteter Menschen. Aber das hing einfach damit zusammen, dass sie nie in einem Keller zu Tode gefoltert worden waren, dass sie noch nie Videos über vergewaltigte Kinder im Internet gesehen hatten, dass sie noch nie entführt, gedrillt, unter Drogen gesetzt und wochenlang von Dutzenden von Männern vergewaltigt worden waren, ehe sie in einer großen europäischen Stadt zur Prostitution gezwungen wurden, und dass keiner sie je mental konditioniert hatte, um sich inmitten einer Menschenmenge in die Luft zu sprengen.
Und dass sie nie im Alter von zehn Jahren die Schreie einer Mutter hinter einer Tür mit anhören mussten …
Servaz schüttelte sich. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten, als er merkte, dass Hirtmann ihn beobachtete.
»Gefällt es Ihnen hier?«, fragte Propp.
»Ich glaube, schon. Ich werde gut behandelt.«
»Aber natürlich wären Sie lieber in Freiheit?«
Der Schweizer lächelte sarkastisch.
»Was für eine seltsame Frage«, antwortete er.
»Ja, in der Tat«, stimmte Propp zu, wobei er ihn intensiv ansah. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns ein bisschen unterhalten?«
»Ich habe nichts dagegen«, antwortete der Schweizer leise, während er aus dem Fenster schaute.
»Was tun Sie so den ganzen Tag?«
»Und Sie?«
Mit einem Blinzeln wandte Hirtmann sich um.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich lese Zeitung, ich höre Musik, ich plaudere mit dem Personal, ich betrachte die Landschaft, ich schlafe, ich träume …«
»Wovon träumen Sie?«
»Wovon träumen wir schon?«, wiederholte der Schweizer wie ein Echo, als wäre es eine philosophische Frage.
Eine gute Viertelstunde lang hörte Servaz zu, wie Propp Hirtmann mit Fragen überschüttete. Der antwortete bereitwillig, gleichmütig und mit einem Lächeln. Zum Schluss bedankte sich Propp, und Hirtmann neigte den Kopf, wie um zu sagen: »Gern geschehen.« Dann war Confiant an der Reihe. Er hatte sich seine Fragen offensichtlich im Vorfeld zurechtgelegt.
Der kleine Richter hat seine Hausaufgaben gemacht,
dachte Servaz, der eher für spontane Methoden zu haben war. Dem folgenden Wortwechsel schenkte er kaum Gehör.
»Haben Sie gehört, was draußen passiert ist?«
»Ich lese Zeitung.«
»Und was halten Sie davon?«
»Was meinen Sie?«
»Können Sie sich vorstellen, was für ein Mensch zu einer solchen Tat fähig ist?«
»Sie wollen sagen, das könnte … jemand wie ich gewesen sein?«
»Glauben Sie das?«
»Nein,
Sie
glauben das.«
»Und Sie, was denken Sie darüber?«
»Ich weiß nicht. Ich habe keine Meinung dazu. Vielleicht ist es jemand von hier …«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Es gibt hier doch jede Menge Leute, die dazu fähig sind, oder?«
»Leute wie Sie?«
»Leute wie ich.«
»Und Sie glauben, dass sich jemand hier unbemerkt herausschleichen konnte, um diesen Mord zu begehen?«
»Ich weiß nicht. Und Sie, was meinen Sie?«
»Kennen Sie Eric Lombard?«
»Das ist der Eigentümer des getöteten Pferdes.«
»Und Grimm, den Apotheker?«
»Ich verstehe.«
»Was verstehen Sie?«
»Sie haben da etwas gefunden, was mit mir in Verbindung steht.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Was ist es? Eine Nachricht: ›Ich habe ihn umgebracht‹, unterschrieben Julian Alois Hirtmann?«
»Wieso sollte jemand Ihnen die Schuld
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