Schwarzer Schmetterling
sie durch die Lüftungsöffnung unabsichtlich mitgehört hatte, war die Atmosphäre in der Klinik unerträglich geworden. Verflixt! Wie sollte sie es ein Jahr hier aushalten?
Beim Spazierengehen hatte sie schon immer Ordnung in ihre Gedanken bringen können. Und die eiskalte Luft peitschte durch ihre Gehirnzellen. Je mehr sie nachdachte, umso mehr sagte sie sich, dass am Institut nichts so lief, wie sie es erwartet hatte.
Und dann war da diese Serie von äußeren Ereignissen, die offenbar in Verbindung mit dem Institut standen …
Diane wusste nicht weiter. Waren diese nächtlichen Umtriebe außer ihr noch jemand anderem aufgefallen? Wahrscheinlich hatte das ja gar nichts mit den Begebenheiten draußen zu tun, aber müsste sie nicht für alle Fälle Xavier davon erzählen? Jäh krächzte ein Rabe über ihrem Kopf, ehe er mit kräftigen Flügelschlägen davonflog, und ihr Herz machte einen Satz. Dann kehrte wieder Stille ein. Wieder bedauerte sie, dass sie niemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte. Aber sie war hier allein, und die richtigen Entscheidungen musste sie ganz für sich treffen.
Der Weg führte nicht sehr weit, doch die Einsamkeit dieser Berge bedrückte sie. Das Licht und die Stille, die sich von den Baumwipfeln auf sie herabsenkten, hatten etwas Unheimliches. Die hohen Felswände, die das Tal umrahmten, waren nie ganz außer Sicht – genauso verlor auch ein Gefangener die Mauern seines Gefängnisses nie aus dem Auge. Kein Vergleich mit der so lebendigen, anmutigen Landschaft ihrer schweizerischen Heimat am Genfer See. Der Pfad führte nun einen etwas steileren Hang hinab, und sie musste aufpassen, wohin sie trat. Der Wald war dichter geworden. Schließlich erreichte sie den Saum des Waldes und trat auf eine große Lichtung, in deren Mitte mehrere Gebäude standen. Sie erkannte sie sofort wieder: die Ferienkolonie etwas tiefer im Tal, an der sie auf der Fahrt zum Institut vorbeigekommen war. Die drei Gebäude wirkten genauso verfallen und düster wie beim ersten Mal. Das am Waldrand war beinahe schon überwuchert. Die beiden anderen bestanden nur noch aus Rissen und Spalten, zerbrochenen Scheiben, moosbewachsenem oder von den Unbilden des Wetters geschwärztem Beton. Der Wind fuhr durch die Öffnungen hinein und heulte, bald dunkel, bald schrill, in einem düsteren
Lamento.
Teils dürres, teils aufgeweichtes Laub, das einen fauligen Geruch verströmte, häufte sich halb vom Schnee bedeckt am Fuß der Betonmauern.
Sie schlüpfte langsam durch eine der Maueröffnungen. Die Flure und Räume im Erdgeschoss waren von dem gleichen Aussatz überzogen, der sich auch auf den Mauern der ärmeren Stadtviertel ausbreitete: Graffiti, die da verkündeten: »Fuck die Bullen!« – sie sicherten sich dieses Territorium, obwohl es ihnen von niemandem streitig gemacht wurde. Überall primitive, obszöne Zeichnungen. Sie schloss daraus, dass auch Saint-Martin sein Häuflein vielversprechender Künstler zählte.
Ihre Schritte hallten in den leeren Sälen wider. Sie schlotterte in der eisigen Zugluft. Sie besaß genug Phantasie, um sich hier Horden herumtobender Kinder vorzustellen, die von gutmütigen Betreuern beaufsichtigt wurden. Trotzdem kam sie nicht gegen den Eindruck an, dass dieser Ort hier etwas Bedrückendes hatte. Sie erinnerte sich an ein Glaubwürdigkeitsgutachten über einen elfjährigen Jungen aus ihrer kurzen Tätigkeit in einer Genfer Privatpraxis für Rechtspsychologie: Dieses Kind war von einem Ferienbetreuer vergewaltigt worden. Aus eigener Erfahrung wusste sie nur allzu gut, dass die Welt nicht war wie ein Roman von Johanna Spyri. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie allein an einem fremden Ort war, vielleicht auch mit den jüngsten Ereignissen – aber sie musste ständig an die unermesslich große Zahl von Vergewaltigungen, Morden, Misshandlungen denken, an die körperliche und moralische Brutalität, die überall ausgeübt wurde, Tag für Tag – ein Gedanke, dem man genauso wenig ins Auge sehen konnte wie der blendenden Sonne. Und da fielen ihr plötzlich ein paar Verse aus Baudelaires
Blumen des Bösen
ein:
Doch unter den Schakalen, den Panthern, den Hetzhündinnen, den Affen, den Skorpionen, Geiern, Schlangen, den Untieren allen, die da belfern, heulen, grunzen, kriechen in der ruchlosen Menagerie unserer Laster …
Plötzlich erstarrte sie. Da draußen war ein Motorengeräusch … Ein Wagen bremste und blieb vor der Kolonie stehen. Knirschende Reifen. Reglos
Weitere Kostenlose Bücher