Schwarzer Schmetterling
Gustav Mahler.
Vierte Symphonie …
Hirtmann blickte nicht auf. Er las Zeitung. Servaz lehnte sich leicht vor. Er bemerkte, dass der Schweizer im Vergleich zu den Fotos in seiner Akte abgenommen hatte. Seine Haut war milchiger, fast transparent geworden, so dass sich sein kurzgeschnittenes, dichtes dunkles Haar, in dem sich vereinzelte graue Fäden zeigten, scharf davon abhob. Er war nicht rasiert, und tiefschwarze Bartstoppeln sprossen auf seinem Kinn. Trotzdem hatte er noch immer diese Ausstrahlung eines gebildeten Mannes von feiner Lebensart, die er auch dann nicht verloren hätte, wenn er in Pennerlumpen unter einer Pariser Brücke gelebt hätte – und dieses ein wenig strenge Gesicht mit der gerunzelten Stirn, das in den Gerichtssälen gewiss beeindruckt hatte. Abgesehen davon trug er einen Overall mit offenem Kragen und ein weißes T-Shirt, das grau verwaschen war.
Auch war er im Vergleich zu den Bildern ein wenig gealtert.
»Dies hier ist Commandant Servaz«, sagte Xavier, »außerdem der Richter, Monsieur Confiant, Capitaine Ziegler und Professor Propp.«
Im Gegenlicht des Fensters sah der Schweizer auf, und Servaz bemerkte zum ersten Mal das Funkeln in seinen Augen. Nicht die Außenwelt spiegelte sich darin wider: Sie loderten von einer inneren Flamme. Der Eindruck dauerte nur eine Sekunde. Dann verschwand er, und der Schweizer wurde wieder zum ehemaligen Staatsanwalt von Genf – urban, höflich und heiter.
Er schob den Stuhl zurück und stand auf. Er war noch größer als auf den Fotos. An die 1 , 95 Meter, schätzte Servaz.
»Guten Tag«, sagte er.
Er heftete seinen Blick auf Servaz. Einen Moment lang musterten sich die beiden Männer schweigend. Dann machte Hirtmann etwas Seltsames: Er streckte Servaz unvermittelt seine Hand entgegen, so dass der beinahe zusammengeschreckt und zurückgewichen wäre. Hirtmann nahm die Hand des Polizisten in seine und drückte sie kräftig. Servaz lief es kalt über den Rücken. Die Hand des Schweizers war feucht und kalt wie Fischfleisch – vielleicht eine Nebenwirkung der Medikamente.
»Mahler«, sagte der Polizist, um sich gelassen zu geben. Hirtmann sah ihn erstaunt an.
»Mögen Sie das?«
»Ja, die Vierte, erster Satz«, ergänzte Servaz.
»Bedächtig … Nicht eilen … Recht gemächlich …«,
äußerte Hirtmann auf Deutsch, und Servaz übersetzte. Hirtmann wirkte überrascht, aber sehr erfreut.
»Adorno hat gesagt, dieser Satz sei wie das ›Es war einmal‹ im Märchen.«
Servaz schwieg und lauschte den Streichern.
»Mahler hat das unter sehr schwierigen Umständen komponiert«, fuhr der Schweizer fort. »Wussten Sie das?«
Und wie ich das weiß.
»Ja«, antwortete Servaz.
»Er machte Ferien … Diese Ferien waren ein Alptraum … Scheußliches Wetter …«
»Und ständig störte ihn der Lärm einer städtischen Blaskapelle.«
Hirtmann lächelte.
»Welche Ironie, finden Sie nicht? Ein genialer Komponist, der durch eine städtische Blaskapelle aus dem Konzept gebracht wird.«
Er hatte eine tiefe und recht bedächtige Stimme. Angenehm. Die Stimme eines Schauspielers, eines Volkstribuns. Seine Gesichtszüge hatten etwas Feminines, vor allem die langen, schmalen Lippen. Und die Augen. Die Nase war fleischig, die Stirn hoch.
»Wie Sie sich selbst überzeugen können«, sagte Xavier und trat ans Fenster, »ist es unmöglich, auf diesem Weg auszubrechen, es sei denn für Superman. Das Fenster befindet sich in einer Höhe von vierzehn Metern. Es ist gepanzert und einzementiert.«
»Wer kennt die Kombination der Tür?«, fragte Ziegler.
»Ich, Elisabeth Ferney und die beiden Wachleute der Station A.«
»Bekommt er viel Besuch?«
»Julian?«, sagte Xavier und wandte sich dem Schweizer zu.
»Ja?«
»Bekommen Sie viel Besuch?«
Der Schweizer lächelte.
»Sie, Doktor, Mademoiselle Ferney, Monsieur Monde, den Friseur, den Anstaltsgeistlichen, das therapeutische Team, Dr. Lepage …«
»Das ist unser Chefarzt«, erklärte Xavier.
»Kommt es vor, dass er das Zimmer verlässt?«
»Er hat dieses Zimmer in sechzehn Monaten ein Mal verlassen. Um eine Karies behandeln zu lassen. Wir lassen einen Zahnarzt aus Saint-Martin kommen, alle erforderlichen Instrumente haben wir im Haus.«
»Und diese beiden Türen?«, sagte Ziegler.
Xavier öffnete sie: ein Wandschrank mit einigen Stapeln Unterwäsche und weißen Overalls zum Wechseln auf Bügeln, ein kleiner Waschraum ohne Fenster.
Servaz beobachtete Hirtmann aus den Augenwinkeln. Der
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