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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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einem der Fotos inne. Etwa zehn junge Leute, darunter Alice, standen neben einem verrosteten Schild. Colonie des Isards …
Alice gehörte zu denen, die sich in der Kolonie aufgehalten hatten …
Ihm fiel auch auf, dass Alice auf den Fotos, auf denen sie zu sehen war, immer der Mittelpunkt war. Die Schönste, die Strahlendste – der Blickfang.
    Der Spiegel.
    Er hatte einen Sprung.
    Jemand hatte einen Gegenstand dagegen geschleudert; das Geschoss hatte dort, wo es aufgeschlagen war, sternförmige Risse und einen langen diagonalen Spalt zurückgelassen.
Alice? Oder ihr Vater in einem Moment der Verzweiflung?
    Postkarten, eingeklemmt zwischen Rahmen und Spiegel. Auch sie vergilbt. Verschickt von Orten wie der Île de Ré, Venedig, Griechenland oder Barcelona. Im Laufe der Zeit waren einige schließlich auf die Kommode und den Teppichboden gefallen. Eine davon erweckte seine Aufmerksamkeit.
Mistwetter, du fehlst mir.
Unterzeichnet mit Emma. Ein Palästinenserschal auf der Kommode, ein paar Kinkerlitzchen, Watte zum Abschminken und ein blauer Schuhkarton. Servaz öffnete ihn.
Briefe …
Ein kleines Zittern durchlief ihn, als er an die Briefe der Selbstmörder dachte – die, die sich in dem Karton von Saint-Cyr befanden. Er sichtete sie nacheinander. Naive oder lustige Briefe, geschrieben mit blasslila oder violetter Tinte. Immer die gleichen Unterschriften. Er fand nicht die leiseste Anspielung auf das, was bevorstand. Er müsste die Handschriften mit denen der Briefe im Karton vergleichen, dann sagte er sich, dass das bestimmt bereits getan worden war … Die Kommodenschubladen … Er hob die Stapel von T-Shirts, Unterwäsche, Bettlaken und Decken an. Dann kniete er sich auf den Teppichboden und sah unter dem Bett nach. Riesige Staubflocken, mit denen man eine Daunendecke hätte stopfen können, und eine Gitarrentasche.
    Er zog sie ans Licht und öffnete sie. Kratzer im Lack des Instruments, die h-Saite war gerissen. Servaz warf einen Blick ins Innere des Resonanzkörpers: nichts. Ein Federbett mit Rautenmuster auf dem Bett. Er sah sich genauer die CDs an, die verstreut darauf lagen: Guns N’Roses, Nirvana, U 2  … Nur englische Titel. Dieses Zimmer war ein wahres Museum der neunziger Jahre. Kein Internet, kein Computer, kein Handy:
Die Welt verändert sich heute so schnell, dass ein Menschenleben dafür nicht mehr ausreicht,
sagte er sich. Er drehte Kissen, Leintücher und Federbett um, fuhr mit der Hand unter der Matratze durch. Das Bett verströmte keinen besonderen Duft, keinen besonderen Geruch – der Staub, der darauf lag, wirbelte bis zur Decke empor.
    Ein kleiner Armsessel mit hoher Lehne neben dem Bett. Jemand (Alice?) hatte auch ihn orange angestrichen. Eine alte Militärjacke war über die Rückenlehne geworfen. Er klopfte auf den Sitz, aber er wirbelte damit lediglich eine neue Staubwolke auf; dann setzte er sich und sah sich um, versuchte, seine Gedanken schweifen zu lassen.
    Was sah er hier?
    Das Zimmer eines jungen Mädchens, das ein Kind seiner Zeit, aber auch sehr weit für sein Alter war.
    Servaz hatte unter den Büchern
Der eindimensionale Mensch
von Marcuse,
Die Dämonen
und
Schuld und Sühne
entdeckt. Wer hatte ihr diese Lektüre empfohlen? Bestimmt nicht ihre kleinen Kameradinnen mit den Puppengesichtern. Dann erinnerte er sich, dass ihr Vater Philologe war. Noch einmal ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen.
    Das beherrschende Element in diesem Zimmer,
sagte er sich,
sind Texte, Wörter.
Die der Bücher, der Postkarten, der Briefe … Alle von anderen aufgeschrieben. Wo waren die Wörter von Alice? War es möglich, dass ein Mädchen, das Bücher verschlang und das seine Gefühle an der Gitarre und beim Zeichnen zum Ausdruck brachte, nie das Bedürfnis verspürt haben sollte, das auch mit Wörtern zu tun? Das Leben von Alice hatte am 2 . Mai aufgehört, die letzten Tage ihres Lebens hatten nirgends die geringste Spur hinterlassen.
Unmöglich,
sagte er sich. Kein Tagebuch, nichts: Irgendetwas stimmte nicht. Ein Mädchen in diesem Alter, das intelligent und neugierig war, wahrscheinlich über einen unerschöpflichen Vorrat an existenziellen Fragen verfügte und vor allem so verzweifelt war, dass es sich umbrachte, sollte keinerlei Tagebuch geführt haben? Nicht einmal ein paar seiner Gemütszustände einem Notizbuch oder losen Blättern anvertraut haben? Heute hatten Jugendliche Blogs, elektronische Briefkästen, persönliche Profile in sozialen Netzwerken – aber früher

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