Schwarzer Schmetterling
wie möglich die Identität des Anrufers ermitteln!«
»Okay. Er wird Sie bestimmt anrufen«, bemerkte der Gendarm.
»Wann hat er Sie denn angerufen?«
»Vor weniger als fünf Minuten.«
»Nun, dann wird er mich bestimmt in den nächsten Minuten anrufen. Verständigen Sie Confiant. Und Ziegler! Vielleicht will mir der Typ nicht sagen, wer er ist. Vielleicht ist es ein getürkter Anruf. Aber wir brauchen seine Identität!«
Servaz legte auf, gespannt wie ein Flitzbogen. Was ging da vor? Wer versuchte, ihn zu kontaktieren? Chaperon? Jemand anders? Jemand, der Angst hatte …
Jemand, der auch befürchtete, dass ihn die Gendarmen von Saint-Martin möglicherweise wiedererkannten, und der deshalb seine Stimme verstellte …
»Gibt’s Ärger?«
»Eher Fragen«, antwortete er zerstreut. »Und vielleicht Antworten.«
»Sie haben einen nicht gerade leichten Beruf.«
Servaz musste lächeln.
»Sie sind der erste Lehrer, von dem ich das höre.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es ein ehrbarer Beruf ist.«
Servaz empfand die Anspielung als kränkend.
»Wieso sollte er es nicht sein?«
»Sie stehen im Dienst der Macht.«
Servaz spürte, wie er wieder wütend wurde.
»Es gibt Tausende von Männern und Frauen, die mit der Macht, wie Sie es nennen, nichts anfangen können und die ihr Familienleben, ihre Wochenenden, ihren Schlaf opfern, um sich als letztes Bollwerk, als letzter Damm gegen …«
»… die Barbarei zu stellen?«, schnitt er ihm unwirsch das Wort ab.
»Ja. Sie können sie hassen, kritisieren oder verachten, aber Sie kommen nicht ohne sie aus.«
»Ebenso wenig, wie man ohne die Lehrer auskommt, die auch kritisiert, gehasst oder verachtet werden«, sagte Ferrand lächelnd. Die Botschaft war angekommen.
»Ich würde mir gern Alices Zimmer ansehen.«
Ferrand richtete seinen hochgewachsenen, braungebrannten Körper in den hellen Leinenkleidern auf.
»Kommen Sie.«
Servaz bemerkte die Staubflocken auf der Treppe und das Geländer, das schon lange nicht mehr gewachst worden war. Ein alleinstehender Mann. Wie er. Wie Gabriel Saint-Cyr. Wie Chaperon. Wie Perrault … Das Zimmer von Alice befand sich nicht im ersten Stock, sondern ganz oben, unter dem Dach.
»Da ist es«, sagte Ferrand und zeigte auf eine weiße Tür mit Kupfergriff.
»Haben Sie … haben Sie inzwischen die Sachen Ihrer Tochter weggeworfen oder das Zimmer renoviert?«
Diesmal verschwand das Lächeln aus dem Gesicht von Gaspard Ferrand und wich einer fast verzweifelten Grimasse.
»Wir haben nichts angerührt.«
Er wandte ihm den Rücken zu und stieg wieder hinunter. Servaz blieb einen Moment auf dem kleinen Treppenabsatz im zweiten Stock stehen. Unten aus der Küche hörte er das Klirren von Geschirr. Ein Dachfenster über seinem Kopf erhellte den Treppenabsatz. Als Servaz aufblickte, sah er, dass ein dünner Film aus durchscheinendem Schnee an der Scheibe klebte. Er atmete tief ein. Dann betrat er das Zimmer.
Das Erste, was ihm auffiel, war die Stille.
Wahrscheinlich wurde sie durch den Schnee, der draußen fiel und alle Geräusche dämpfte, noch verstärkt. Aber dies war eine besondere Stille. Als Zweites fiel ihm die Kälte auf. Das Zimmer wurde nicht geheizt. Unwillkürlich ließ ihn dieses Zimmer, das still und kalt wie ein Grab war, erschauern. Denn es war unübersehbar, dass hier jemand gelebt hatte. Ein junges Mädchen, das war wirklich unverkennbar …
Fotos an den Wänden. Ein Schreibtisch, Regale, ein Kleiderschrank. Eine Kommode, darüber ein großer Spiegel. Ein Bett mit zwei Nachttischen. Das Mobiliar schien aus Trödelläden zusammengekauft und anschließend in kräftigen Farben neu gestrichen worden zu sein – Orange und Gelb dominierten, von dem Violett der Wände und dem Weiß des Teppichbodens hob es sich kräftig ab.
Die Schirme der kleinen Lampen und die Nachttische waren orange, Bett und Schreibtisch ebenfalls; die Kommode und der Spiegelrahmen waren gelb. An einer der Wände hing ein großes Poster eines blonden Sängers mit dem Namen KURT in Großbuchstaben. Ein Schal, Stiefel, Zeitschriften und CDs lagen verstreut auf dem weißen Teppichboden herum. Eine geraume Weile tat er nichts anderes, als dieses Chaos auf sich einwirken zu lassen. Woher kam dieser Eindruck, dass die Luft ganz dünn war? Wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass alles unangetastet geblieben war, wie eingefroren. Sah man einmal vom Staub ab. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, auch nur ein bisschen aufzuräumen – als
Weitere Kostenlose Bücher