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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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hätten ihre Eltern die Zeit anhalten und aus diesem Zimmer ein Museum, ein Mausoleum machen wollen. Auch nach all diesen Jahren wirkte dieses Zimmer noch immer so, als würde Alice im nächsten Moment auftauchen und Servaz fragen, was er hier zu suchen hatte. Wie oft war der Vater von Alice während all dieser Jahre in dieses Zimmer gekommen und hatte das Gleiche empfunden wie er? Servaz sagte sich, dass er an seiner Stelle wohl verrückt geworden wäre, mit diesem Zimmer direkt über ihm, das unverändert geblieben war, und mit der täglichen Versuchung, die Stufen hinaufzusteigen und die Tür noch einmal – ein letztes Mal – zu öffnen … Er trat ans Fenster und sah nach draußen. Die Straße wurde zusehends weißer. Dann atmete er ein weiteres Mal tief ein, drehte sich um und begann mit der Durchsuchung.
    Auf dem Schreibtisch, auf einem Haufen: Schulbücher, Haargummis, eine Schere, mehrere Stiftebecher, Papiertaschentücher, Bonbontüten, eine rosa Haftnotiz, auf der Servaz die folgende Nachricht las:
Biblio, 12:30 Uhr,
die Tinte war mit der Zeit verblichen. Ein Terminkalender, mit einem Gummi umwickelt, ein Taschenrechner, eine Lampe. Er schlug den Kalender auf. Am 25 . April, eine Woche vor ihrem Tod, hatte Alice geschrieben:
Emma Buch zurückgeben.
Am 29 . der Eintrag:
Charlotte.
Am 30 ., drei Tage bevor sie sich erhängte,
Mathe-Arbeit.
Eine runde, klare Handschrift. Ihre Hand hatte nicht gezittert … Servaz blätterte die Seiten um. Am 11 . August der Eintrag:
Geburtstag Emma.
Zu diesem Zeitpunkt war Alice seit über drei Monaten tot. Ein Datum, das weit im Voraus notiert worden war … Wo war Emma heute? Was war aus ihr geworden? Sie musste inzwischen um die dreißig sein. Auch nach all diesen Jahren würde sie gewiss hin und wieder an dieses schreckliche Jahr 1993 denken.
All diese Toten …
Über dem Schreibtisch, mit Reißzwecken an die Wand geheftet, ein Stundenplan und ein Kalender. Die Schulferien waren mit einem gelben Marker unterstrichen. Servaz’ Blick verweilte auf dem schicksalhaften Datum: 2 . Mai. Nichts, was diesen Tag von den anderen Tagen unterscheiden würde … Darüber ein Regalbrett aus Holz mit Büchern und Judopokalen, die zeigten, dass sie in dieser Disziplin hervorragend gewesen war, und ein Kassettenrekorder.
    Er wandte sich den Nachttischen zu. Darauf neben den beiden Lampen mit orangefarbenen Lampenschirmen ein Wecker, zwei Taschentücher, eine kleine Spielkonsole der Marke Gameboy, eine Haarklammer, Nagellack, ein Roman in Taschenbuchausgabe mit einem Lesezeichen. Er zog die Schubladen auf. Papier mit Zierbuchstaben, eine kleine Truhe mit unechtem Schmuck, ein Päckchen Kaugummi, ein Fläschchen Parfüm, ein Deostift, Batterien.
    Er tastete die Unterseite der Schubladen ab.
    Nichts.
    Im Innern des Schreibtischs befanden sich Ordner, Hefte und Schulbücher, Unmengen von Kugelschreibern, Filzstiften und Büroklammern. Ein Spiralheft voller Skizzen in der mittleren Schublade. Servaz schlug es auf: Alice war sichtlich begabt. Ihre Blei- und Filzstiftzeichnungen zeugten von einer sicheren Hand und einem scharfen Auge – auch wenn die meisten noch etwas zu akademisch ausfielen. In der unteren Schublade waren wieder Haargummis und eine Bürste, an der einige blonde Haare hängen geblieben waren, ein Nagelschneider, mehrere Lippenstifte, aber auch Röhrchen Aspirin, Mentholzigaretten, ein durchsichtiges Plastikfeuerzeug … Er öffnete die Ordner und die Hefte in der ersten Schublade: Hausaufgaben, Erörterungen, Konzepte … Er legte sie zur Seite und trat an die kleine Stereoanlage, die in einer Ecke auf dem Teppichboden stand. Ein CD -Spieler und ein Radio. Auch sie war von einer dicken Staubschicht überzogen. Servaz blies eine graue Staubwolke auf, dann öffnete er nacheinander die Fächer. Nichts. Dann trat er an den großen Spiegel und die Fotowand. Einige Aufnahmen waren aus so kurzer Distanz gemacht worden, dass die darauf abgebildeten Personen förmlich mit der Nase am Objektiv klebten. Bei anderen waren im Hintergrund Landschaften zu sehen: Berge, ein Strand oder auch die Säulen des Parthenons. Mädchen, die zum größten Teil in Alices Alter waren. Immer dieselben Gesichter. Manchmal mischten sich ein oder zwei Jungen unter die Gruppe. Aber der Fotograf schien niemanden vorzuziehen. Klassenfahrten? Servaz musterte diese Fotos eine ganze Weile. Alle waren mit der Zeit vergilbt und schrumpelig geworden.
    Was suchte er eigentlich? Plötzlich hielt er bei

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