Schwarzer Schmetterling
konnten nur Papier und Tinte ihre Fragen, ihre Zweifel und ihre Geheimnisse aufnehmen.
Er stand wieder auf und sah nacheinander sämtliche Hefte und Schubladen von Alices Schreibtisch durch. Nichts als Schulsachen. Er warf einen Blick auf die Erörterungen. Die Beurteilungen waren genauso hervorragend wie die Noten …
Aber noch immer keine persönlichen Aufzeichnungen.
Hatte Alices Vater hier aufgeräumt?
Er hatte Servaz spontan empfangen, und er hatte ihm gesagt, er sei überzeugt davon, dass die Jugendlichen sich aus einem bestimmten Grund umgebracht hätten. Weshalb sollte er Dinge beiseiteschaffen, die bei der Wahrheitsfindung hilfreich sein könnten? In den amtlichen Berichten hatte Servaz keinen Hinweis auf ein Tagebuch gefunden. Nichts deutete darauf hin, dass Alice eines geführt hatte. Trotz allem war der Eindruck stärker denn je: In diesem Zimmer fehlte etwas.
Ein
Versteck …
Hatten das nicht alle Mädchen? Wo war das von Alice?
Servaz stand auf und öffnete den Kleiderschrank. Mäntel, Kleider, Blousons, Jeans und ein weißer Kimono mit einem braunen Gürtel, alles auf Bügeln. Er schob sie zur Seite, durchsuchte die Taschen. Vor der Rückwand des Schranks eine Reihe von Schuhen und Stiefeln. Im Lichtschein seiner kleinen Taschenlampe nahm Servaz das Innere genauer unter die Lupe. Über den Bügeln befand sich ein Regal mit mehreren Koffern und einem Rucksack darauf. Er nahm sie heraus, legte sie auf den Teppichboden – eine große Staubwolke wirbelte hoch – und durchsuchte sie systematisch.
Nichts … Er überlegte …
Das Zimmer war mit Sicherheit von erfahrenen Ermittlern – und von Alices Eltern selbst – eingehend untersucht worden. War es möglich, dass sie das Versteck nicht gefunden hatten, wenn es eines gab? Hatten sie überhaupt danach gesucht? Alle hatten gesagt, Alice sei hochintelligent gewesen. Hatte sie ein über jeden Zweifel erhabenes Versteck gefunden? Oder war er auf dem Holzweg?
Was wusste er schon von den Gedanken und Träumen einer Sechzehnjährigen? Seine eigene Tochter war vor ein paar Monaten siebzehn geworden, und er hätte nicht zu sagen vermocht, wie ihr Zimmer aussah. Aus dem einfachen Grund, dass er es nie betreten hatte. Bei diesem Gedanken fühlte er sich schlecht. Am Rande seines Bewusstseins spürte er so etwas wie einen Juckreiz. Er hatte beim Durchsuchen des Zimmers etwas übersehen. Oder vielmehr hätte sich etwas hier befinden müssen, was nicht da war.
Denk nach!
Es war da, zum Greifen nah, er spürte es. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas fehlte. Was? WAS ? Noch einmal ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Er ging alle Möglichkeiten durch. Er hatte alles genau untersucht, selbst die Fußleisten und die Parkettstäbe unter dem weißen Teppichboden. Da war nichts gewesen. Und doch hatte sein Unterbewusstsein etwas registriert, da war er sich ganz sicher – selbst wenn es ihm nicht gelang, den Finger daraufzulegen.
Er nieste wegen des ganzen Staubs, der in der Luft schwebte, und zog ein Taschentuch heraus.
Plötzlich fiel Servaz das Telefon wieder ein.
Kein Anruf! Eine Stunde vergangen und kein Anruf! Er spürte, wie sich sein Magen zusammenschnürte. Verdammt, was war mit ihm los? Warum rief er nicht an?
Servaz nahm sein Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Er unterdrückte eine Anwandlung von Panik:
Es war ausgeschaltet!
Er versuchte, es wieder anzuschalten:
Entladen! Verdammt!
Er stürzte aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter. Gaspard Ferrand steckte den Kopf aus der Küchentür, als er im Flur daran vorbeilief.
»Ich komme sofort wieder!«, rief er und riss die Eingangstür auf.
Draußen wütete der Sturm. Der Wind wehte stärker. Die Fahrbahn war weiß, und Schneeflocken wirbelten umher.
Hektisch entriegelte er den auf der anderen Straßenseite abgestellten Jeep, durchwühlte das Handschuhfach nach dem Ladegerät. Dann eilte er im Laufschritt zum Haus zurück.
»Nichts passiert!«, beruhigte er den verdutzten Ferrand.
Er sah sich nach einer Steckdose um, entdeckte eine im Flur und schloss das Ladegerät an.
Er wartete fünf Sekunden und schaltete dann das Handy an.
Vier
SMS
!
Er wollte gerade die erste lesen, als das Handy klingelte.
»Servaz!«, rief er.
» WO HABEN SIE DENN GESTECKT , VERFLUCHT ?«
Eine völlig panische Stimme; Servaz war kaum weniger panisch. Seine Ohren brummten wegen des Blutes, das in seinen Schläfen pochte. Der Mann verstellte seine Stimme nicht – aber er kannte
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