Schwarzer Schmetterling
einem kleinen Schlaumeier wie dir zu diskutieren. Also?«
»Die Höchstgeschwindigkeit der Seilbahn beträgt fünf Meter pro Sekunde«, sagte der Mann, mürrisch dreinblickend. »Achtzehn Kilometer pro Stunde.«
»Also los, maximale Geschwindigkeit!«, rief Servaz und sprang in eine Kabine, eine Schale aus Verbundwerkstoff mit großen Plexiglasscheiben und vier winzigen Sitzen.
Ein Schwenkarm schloss hinter ihm die Tür. Servaz schluckte seinen Speichel hinunter. Die Kabine schwankte ein wenig, als sie die Spurlatte verließ und durch die Luft schwebte. Er hielt es für ratsam, sich hinzusetzen, statt in diesem wankenden Schneckenhaus stehen zu bleiben, das rasch zur ersten Stütze hinauffuhr und die weißen Dächer von Saint-Martin unter sich ließ. Servaz warf einen kurzen Blick hinter sich, und wie im Hubschrauber bereute er es sogleich. Die Neigung des Kabels war so stark, dass es ihm wie eine dieser typisch menschlichen Verwegenheiten erschien, die ihre Unverantwortlichkeit bezeugten; und sein Durchmesser war viel zu gering, um ihn zu beruhigen. Die Dächer und die Straßen wurden rasch kleiner. Die Kabinen vor ihm waren jeweils dreißig Meter voneinander entfernt, und sie schaukelten im Wind.
Er sah, dass das Pärchen unten nicht eingestiegen war und zu seinem Auto zurückkehrte. Er war allein. Niemand fuhr hinauf, niemand kam herunter. Die Kabinen waren leer. Alles war still, bis auf den Wind, der immer lauter heulte.
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Plötzlich tauchte auf halber Höhe des Berges Nebel auf, und ehe er wusste, wie ihm geschah, fand sich Servaz in einer unwirklichen Welt der verschwommenen Konturen wieder, und einzig die Tannen, die wie eine Armee von Gespenstern im Nebel aufragten, und der Blizzard, der die Flocken um die Kabine wirbeln ließ, leisteten ihm hier Gesellschaft.
Er hatte seine Waffe vergessen!
In der Hast hatte er sie im Handschuhfach zurückgelassen. Was würde passieren, wenn er dort oben unverhofft dem Mörder gegenüberstünde? Ganz zu schweigen davon, dass Servaz ein perfektes Ziel abgeben würde, falls ihn der Mörder an der Bergstation erwartete und bewaffnet wäre. Keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Diese Kunststoffschale würde die Kugeln jedenfalls nicht aufhalten.
Er ertappte sich bei der Hoffung, dass Ziegler ihm zuvorgekommen war. Eigentlich müsste sie ihm voraus sein.
Es ist nicht ihre Art, ihre Pistole zu vergessen.
Wie würde Perrault reagieren, wenn er sie sah? Schließlich hatte er Servaz gebeten, allein zu kommen.
Er hätte den kleinen Schlaumeier hinter dem Schalter fragen sollen, ob er sie gesehen hatte. Zu spät. Mit der nervtötend langsamen Geschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde drang er ins Unbekannte vor. Er nahm sein Handy heraus und wählte Perraults Nummer. Aber da war nur der Anrufbeantworter.
Verdammt noch mal! Warum hat er sein Handy ausgeschaltet?
Er erblickte in einer Kabine, die sich etwa zweihundert Meter schräg über ihm befand und zu Tal fuhr, zwei dunkle Gestalten. Das waren die ersten Menschen, denen er begegnete, seit er die Talstation verlassen hatte. Er wählte die Nummer von Irène Ziegler.
»Ziegler.«
»Bist du oben?«, fragte er.
»Nein, ich bin unterwegs.« – Sie machte eine kurze Pause. – »Tut mir leid, Martin, aber mein Motorrad ist in dem Schnee ins Rutschen gekommen, und ich bin gegen einen Bordstein geknallt. Ich hab nur ein paar Schrammen abbekommen, aber ich musste ein anderes Fahrzeug nehmen. Wo bist du?«
Oh, nein!
»Ungefahr auf halber Strecke!«
Je näher die Kabine mit den beiden Insassen kam, desto schneller schien sie zu werden. Servaz rechnete nach, dass die beiden Kabinen, wenn sie jeweils mit achtzehn Stundenkilometern aufeinander zufuhren, zusammen eine Geschwindigkeit von sechsunddreißig Stundenkilometern erreichten.
»Wusstest du, dass an der Bergstation ein Sturm tobt?«
»Nein«, sagte er, »hab ich nicht gewusst. Perrault antwortet nicht …«
»Bist du bewaffnet?«
Selbst aus dieser Entfernung sah er, dass einer der Fahrgäste ihn anstarrte – genauso scharf, wie er sie beobachtete.
»Ich habe meine Waffe im Auto vergessen.«
Es folgte ein Schweigen, das er als bedrückend empfand.
»Sei vors…«
Unterbrochen! Er betrachtete sein Handy. Nichts mehr. Er wählte die Nummer erneut. »Kein Netz«. Das hatte gerade noch gefehlt. Er machte noch zwei weitere Versuche. Erfolglos. Servaz traute seinen Augen nicht. Als er aufsah, war die besetzte Kabine noch näher
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