Schwarzer Schmetterling
dann mit diesem Verlust leben? Ich habe mir diese Frage fünfzehn Jahre lang gestellt; heute habe ich die Antwort gefunden.«
Ferrand warf ihm einen so seltsamen Blick zu, dass sich Servaz einen Moment lang fragte, ob der Vater von Alice nicht den Verstand verloren hatte.
»Aber das ist eine Antwort, die jeder in sich selbst finden muss. Damit will ich sagen, dass niemand sie Ihnen beibringen und niemand für Sie abgeben kann.«
Gaspard Ferrand warf Servaz einen durchdringenden Blick zu, um herauszufinden, ob er verstanden hatte. Servaz fühlte sich äußerst unwohl.
»Aber ich bringe Sie in Verlegenheit«, stellte sein Gastgeber fest. »Verzeihen Sie mir. Das kommt davon, wenn man allein lebt. Meine Frau ist zwei Jahre nach dem Tod von Alice an einer rasant verlaufenden Krebserkrankung gestorben. Sie interessieren sich also für diese Suizidwelle vor fünfzehn Jahren, obwohl Sie doch gerade mit Ermittlungen über den Mord an dem Apotheker beschäftigt sind. Warum?«
»Hat keiner der Jugendlichen einen Abschiedsbrief hinterlassen?«, fragte Servaz, ohne zu antworten.
»Keiner. Aber das heißt nicht, dass es keine gab. Keine Erklärung, meine ich. All diese Selbstmorde haben ein Motiv, diese Jugendlichen haben ihrem Leben aus einem ganz bestimmten Grund ein Ende gesetzt. Nicht einfach nur, weil sie der Ansicht waren, das Leben sei nicht lebenswert.«
Ferrand starrte seinen Gast unverwandt an. Servaz fragte sich, ob er von den Gerüchten wusste, die über Grimm, Perrault, Chaperon und Mourrenx kursierten.
»Hatte sich Alice vor ihrem Selbstmord irgendwie verändert?«
Ferrand nickte.
»Ja. Wir haben das nicht sofort bemerkt. Nach und nach haben wir Veränderungen festgestellt: Alice lachte nicht mehr wie früher, sie wurde öfter und schneller wütend, sie verbrachte mehr Zeit in ihrem Zimmer … Solche Kleinigkeiten … Eines Tages wollte sie aufhören, Klavier zu spielen. Sie sprach nicht mehr wie früher mit uns über ihre Pläne.«
Servaz spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Er erinnerte sich an Alexandras Anruf in seinem Hotel. Auch den blauen Fleck an Margots Wange sah er wieder vor sich.
»Und Sie wissen nicht, wann genau das angefangen hat?«
Ferrand zögerte. Servaz hatte das merkwürdige Gefühl, dass der Vater von Alice eine genaue Vorstellung davon hatte, wann diese Veränderung begonnen hatte, dass es ihm aber widerstrebte, darüber zu reden.
»Mehrere Monate vor ihrem Selbstmord, würde ich sagen. Meine Frau hat diese Veränderungen auf ihre Pubertät geschoben.«
»Und Sie? Waren Sie auch der Meinung, dass es sich um altersbedingte Veränderungen handelte?«
Ferrand warf ihm wieder einen merkwürdigen Blick zu.
»Nein«, antwortete er nachdrücklich nach einer Pause.
»Was ist ihr zugestoßen, Ihrer Meinung nach?«
Alices Vater schwieg so lange, dass Servaz ihn beinahe am Arm geschüttelt hätte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er, ohne Servaz aus den Augen zu lassen, »aber ich bin mir sicher, dass irgendetwas passiert ist. Jemand in diesem Tal weiß, warum sich unsere Kinder umgebracht haben.«
In der Antwort und in dem Tonfall, in dem sie vorgebracht wurde, schwang etwas Anspielungsreiches mit, das Servaz sofort hellhörig machte. Er wollte gerade um genauere Ausführungen bitten, als das Handy in seiner Tasche vibrierte.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Servaz im Aufstehen.
Es war Maillard. Der Gendarmerie-Offizier klang angespannt.
»Wir haben gerade einen sehr seltsamen Anruf erhalten. Ein Typ, der seine Stimme verstellte. Er hat gesagt, es sei dringend, er habe Informationen über den Mord an Grimm. Aber er wollte nur mit Ihnen reden. Wir haben natürlich schon öfter Anrufe dieser Art bekommen, aber …
ich weiß nicht …
dieser da schien
ernst
zu sein. Dieser Typ schien Angst zu haben.«
Servaz fuhr zusammen.
»Angst? Wieso ›Angst‹? Sind Sie sicher?«
»Ja, ich würde die Hand dafür ins Feuer legen.«
»Haben Sie ihm meine Nummer gegeben?«
»Ja. War das ein Fehler?«
»Nein, es war richtig. Haben Sie seine Nummer?«
»Es war ein Handy. Er hat sofort aufgelegt, als er Ihre Nummer hatte. Wir haben versucht, ihn zurückzurufen, aber jedes Mal ging nur der Anrufbeantworter dran.«
»Konnten Sie ihn identifizieren?«
»Nein, noch nicht. Wir müssen uns an den Betreiber wenden.«
»Rufen Sie sofort Confiant und Capitaine Ziegler an! Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern! Schildern Sie ihnen die Situation; wir müssen so schnell
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