Schwarzer Schmetterling
ihrem Fall zu tun haben?
Ziegler, Propp, Marchand, Confiant und d’Humières lauschten Servaz, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie hatten Croissants und Brötchen vor sich stehen: Ein Gendarm hatte sie in der nächstgelegenen Bäckerei geholt. Und Tee, Kaffee, Limodosen und Wassergläser. Noch etwas anderes hatten sie gemeinsam: die Müdigkeit, die ihnen ins Gesicht geschrieben stand.
»Das Tagebuch von Alice Ferrand eröffnet uns einen neuen Ermittlungsansatz«, folgerte Servaz. »Oder, genauer gesagt, es bestätigt eine unserer Hypothesen. Die des Racheaktes. Gabriel Saint-Cyr hat nach eigenem Bekunden nach den Selbstmorden als Motiv auch sexuellen Missbrauch in Betracht gezogen. Aber aus Mangel an beweiskräftigen Tatsachen ist er dieser Spur nicht weiter nachgegangen. Wenn man aber nun diesem Tagebuch Glauben schenkt, dann wurden in der Colonie des Isards tatsächlich mehrfach Jugendliche vergewaltigt und misshandelt. Und diese Misshandlungen dürften einige von ihnen in den Selbstmord getrieben haben.«
»Sie sind bislang der Einzige, der dieses Tagebuch gelesen hat«, bemerkte Confiant.
Servaz wandte sich zu Maillard um. Dieser ging um den Tisch herum, teilte mehrere Stöße mit Fotokopien aus, die er zwischen die Becher, die Gläser und die Croissants legte. Einige hatten ihre Croissants schon gegessen und überall Krümel hinterlassen, andere hatten ihre noch nicht angerührt.
»In der Tat. Aus dem einfachen Grund, dass dieses Tagebuch nicht gelesen werden sollte. Es war sehr gut versteckt. Und ich habe es, wie schon gesagt, erst gestern Nacht entdeckt. Aufgrund eines Zusammentreffens mehrerer Zufälle.«
»Und wenn dieses Mädchen alles erfunden hatte?«
Servaz hob die Hände.
»Das glaube ich nicht … Sie werden sich selbst ein Urteil bilden … Das ist zu realistisch, zu … präzise. Und wieso hätte sie es dann versteckt?«
»Wohin führt uns das alles?«, fragte der Richter. »Ein Kind, das sich als Erwachsener rächt? Ein Verwandter? Aber wie kommt dann die DNA von Hirtmann an die Tatorte? Und das Pferd von Lombard? Ein so verworrenes Ermittlungsverfahren habe ich noch nie erlebt!«
»Nicht das Ermittlungsverfahren ist verworren«, antwortete Ziegler in schneidendem Ton, »die Tatsachen sind es.«
Cathy d’Humières starrte Servaz lange an, den leeren Becher in der Hand.
»Gaspard Ferrand hat ein sehr gutes Motiv für diese Morde«, bemerkte sie.
»Wie alle Eltern der Jugendlichen, die sich umbrachten«, antwortete Servaz. »Und wahrscheinlich auch wie die jungen Leute, die von dieser Bande vergewaltigt wurden, sich nicht das Leben nahmen und heute erwachsen sind.«
»Das ist eine sehr wichtige Entdeckung«, sagte schließlich die Staatsanwältin. »Was schlagen Sie vor, Martin?«
»Wir müssen nach wie vor schnellstens Chaperon finden. Das hat Vorrang. Ehe es der oder die Mörder tun … Aber wir wissen jetzt, dass die Mitglieder des Quartetts in der Colonie des Isards ihr Unwesen trieben. Darauf – und auf die Selbstmörder – müssen wir unsere Nachforschungen konzentrieren. Da es jetzt erwiesen ist, dass es eine Verbindung zwischen ihnen und den beiden Opfern gibt und die Kolonie das Bindeglied ist.«
»Obwohl sich zwei der jungen Leute nie dort aufgehalten haben?«, wandte Confiant ein.
»Meines Erachtens lassen diese Notizbücher kaum Zweifel daran, was damals vorgefallen ist. Die beiden anderen Jugendlichen wurden vielleicht außerhalb der Ferienkolonie vergewaltigt. Muss man die Mitglieder dieses Quartetts als Pädophile betrachten? Ich weiß es nicht … Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sie kleine Kinder missbraucht hätten – ihre Opfer waren Jugendliche und junge Erwachsene. Macht das einen Unterschied? Es ist nicht an mir, das zu beurteilen.«
»Jungen und Mädchen gleichermaßen, nach der Liste der Selbstmörder zu urteilen«, bemerkte Propp. »Aber Sie haben recht, diese Männer haben nicht das typische Profil von Pädophilen – eher von psychopathischen Triebtätern mit einer starken Neigung zu extrem perversen und sadistischen Sexspielen. Allerdings werden sie ganz zweifellos vom jugendlichen Alter ihrer Opfer angezogen.«
»Verkommene Drecksbande«, zischte Cathy d’Humières. »Wie wollen Sie vorgehen, um Chaperon ausfindig zu machen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Servaz.
»Mit einer solchen Situation waren wir noch nie konfrontiert«, sagte sie. »Ich frage mich, ob wir nicht Verstärkung anfordern sollten.«
Servaz’ Antwort
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