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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Zeichnungen waren noch schlimmer. Einige wären bemerkenswert gewesen, wenn ihre Sujets nicht so makaber gewesen wären. Ihm fiel sofort die Zeichnung ins Auge, die die vier Männer in Capes und Stiefeln darstellte. Alice hatte Talent. Sie hatte die kleinste Falte der schwarzen Capes und die im düsteren Schatten der Kapuzen versteckten Gesichter der Viererbande gezeichnet. Auf anderen Zeichnungen waren die vier Männer liegend,
nackt,
mit weit aufgerissenen Augen und Mündern, ja
tot
dargestellt …
Wunschbilder,
dachte Servaz.
    Als er sie genauer ansah, stellte er enttäuscht fest, dass zwar die Capes getreulich wiedergegeben und die nackten Körper sehr realistisch dargestellt waren, die Gesichter dagegen keinem der Männer glichen, die er kannte. Weder Grimm noch Perrault noch Chaperon … Es waren aufgeschwollene, monströse Gesichter, Karikaturen der Lasterhaftigkeit und Grausamkeit, die den in Stein gehauenen Dämonenfratzen auf den Giebelflächen der Kathedralen glichen. Hatte Alice sie absichtlich entstellt? Oder musste er daraus schließen, dass sie und ihre Freundinnen die Gesichter ihrer Folterknechte nie gesehen hatten? Dass sie ihre Kapuzen nie zurückgeschlagen hatten? Immerhin konnte er diesen Zeichnungen und diesen Texten eine Reihe von Informationen entnehmen. Zunächst einmal waren auf den Zeichnungen immer
vier
Männer zu sehen. Dann gab das Tagebuch eine Antwort auf eine weitere Frage, die die Inszenierung des Todes von Grimm aufgeworfen hatte:
die Stiefel.
Was sie an den Füßen des Apothekers zu suchen hatten, war bis dahin ein Rätsel gewesen. Etwas weiter im Text fand er jetzt die Erklärung:
     
    Sie kommen immer in stürmischen Nächten, die Kotzbrocken, wenn es regnet. Bestimmt, um sicher zu sein, dass niemand die Kolonie besucht, während sie da sind. Denn wer käme schon auf die Idee, nach Mitternacht in dieses Tal zu fahren, wenn es wie aus Kübeln schüttet?
    Sie waten mit ihren dreckigen Stiefeln über den matschigen Weg, und dann hinterlassen sie schmutzige Spuren in den Gängen, und sie besudeln alles, was sie berühren, diese großen Schweine.
    Sie haben eine ordinäre Lache und laute Stimmen: Wenigstens eine davon kenne ich.
     
    Dieser letzte Satz hatte Servaz elektrisiert. Er hatte die Notizbücher daraufhin noch einmal gründlich durchgesehen, hatte fieberhaft die Seiten umgeblättert – aber nirgends hatte er eine weitere Anspielung auf die Identität der Peiniger gefunden. Irgendwann war er auf folgenden Satz gestoßen:
»Sie haben es einer nach dem anderen gemacht.«
Worte, die ihn wie gelähmt zurückließen, unfähig, weiterzulesen. Er hatte einige Stunden geschlafen, dann hatte er die Lektüre fortgesetzt. Nachdem er sich einige Passagen noch einmal durchgelesen hatte, war er zu dem Schluss gelangt, dass Alice ein einziges Mal vergewaltigt worden war – oder vielmehr eine einzige Nacht lang –, dass sie in dieser Nacht nicht die Einzige gewesen war und dass die Männer im Lauf dieses Sommers ein halbes Dutzend Mal ins Lager gekommen waren. Warum hatte sie nichts gesagt? Weshalb hatte keines der Mädchen Alarm geschlagen? Aus einigen Einträgen glaubte Servaz entnehmen zu können, dass eine Jugendliche in diesem Sommer bei einem Sturz in eine Felsspalte ums Leben gekommen war.
Ein Exempel, eine Warnung an die anderen?
Hatten sie deshalb geschwiegen? Weil sie mit dem Tod bedroht worden waren? Oder weil sie sich schämten und sich sagten, dass man ihnen ja doch nicht glauben würde? Damals wurden solche Vorfälle höchst selten zur Anzeige gebracht. Auf all diese Fragen lieferte das Tagebuch keine Antwort.
    Es gab auch Gedichte, die die gleiche Frühreife erkennen ließen wie die Zeichnungen, auch wenn es Alice weniger darum ging, ihrem Text literarische Qualitäten zu verleihen, als darum, das Entsetzliche dessen, was sie durchgemacht hatte, zum Ausdruck zu bringen:
     
    War ICH dieser kleine KÖRPER voller TRÄNEN ?
    Dieser Makel, dieser Fleck auf dem Boden, dieses Blau: War das ICH ?
    – und ich
    sah den Boden ganz nah an meinem Gesicht, den Schatten
    des ausgestreckten Henkers;
    Egal, was sie getan haben, was sie gesagt haben,
    den harten Kern in mir, die reine Mandel, können sie nicht erreichen.
    »Papa, was heißt HURE ?«
    Diese Worte, als ich sechs war. Ihre Antwort:
SCHWEINE SCHWEINE SCHWEINE SCHWEINE.
     
    Ein besonders schreckliches Detail hatte Servaz aufmerken lassen: In ihrer Schilderung der Ereignisse hatte Alice mehrfach
das Geräusch der

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