Schwarzer Schwan
Senioren-Union in Grevenbroich war noch genügend Zeit. Er beschloss, später zurückzurufen.
Der Witwer zerhackte mit dem Löffel den Leberknödel auf seinem Teller. Leise sprach er vor sich hin: »Ich habe die Staatsanwaltschaft angezeigt. Conni ist eindeutig ein Opfer der Justiz. Dieser Bescheid hat sie fertiggemacht!«
»Welcher Bescheid?«
»Die Einstellung der Ermittlungen. Sie wissen schon, wegen des Vorfalls auf diesem Schloss. Verjährt, hat der Herr von der Staatsanwaltschaft geschrieben. Ich habe sofort Widerspruch eingelegt, wegen der Schwere der Tat – ein Schützenbruder, der Anwalt ist, hat mir dazu geraten. Aber Conni hat leider keine Hoffnung mehr gesehen. Wer auch immer für dieses Schreiben verantwortlich ist, muss büßen!«
Mierscheid nickte zustimmend, als verlöre er eine Wählerstimme, wenn er dem Mann die Wahrheit erklärte: dass eine Anzeige nichts brachte. Sogar hier konnte er den Politiker in sich nicht ablegen.
»Die beiden Schwestern standen sich sehr nahe, stimmt’s?«, fragte er.
»Wie man’s nimmt. Meine Schwägerin hat in Berlin gelebt und viel gearbeitet. Oft hat man sich da nicht gesehen.«
Mierscheid gefiel der verächtliche Ton nicht, in dem Kehrein über Paula sprach. »Immerhin ist sie mit Constanze in Urlaub gefahren, um sie auf andere Gedanken zu bringen.«
»Ja, auf einmal. Schlechtes Gewissen, ganz klar.« Kehrein zog die Mundwinkel nach unten. »Welche Rolle Paula vor zwanzig Jahren gespielt hat, das hat sie Ihnen wohl nicht erzählt?«
Mierscheid schüttelte den Kopf.
»Conni hat damals gekellnert. Eigentlich war es Paulas Ferienjob, aber die hatte an dem Abend wohl etwas Besseres vor und ihre minderjährige Schwester gefragt, ob sie einspringt. Conni war gerade sechzehn geworden. Nie hätte sie ihrer großen Schwester einen Wunsch ausgeschlagen!«
Mierscheid begann, die Suppe zu löffeln, die nur noch lauwarm war. Allein, um Kehreins bohrendem Blick auszuweichen.
»Das Reinigungspersonal hat Conni am nächsten Morgen halb tot im Weinkeller aufgefunden. Ein Wunder, dass sie überlebt hat, meinten die Ärzte.«
Der Hauptgang wurde serviert, zu rasch, wie Mierscheid fand. Sauerbraten mit Salzkartoffeln – das Fleisch war hart und sehnig, die Soße angedickt und viel zu schwer. Die Enge der Trauergesellschaft, die Erinnerung an den Schock vom Samstag – Mierscheid kämpfte gegen einen plötzlichen Würgreiz an und ahnte, dass er verlieren würde.
Rasch entschuldigte er sich bei seinem Sitznachbarn, sprang auf und fragte die Bedienung nach dem Weg zur Toilette. In letzter Sekunde erreichte er das Klo und kotzte die Schüssel voll.
Mierscheid trat durch die Hintertür und lehnte sich gegen die schattige Wand. Er gierte nach frischer Luft und einer Zigarette. Doch von beiden ging der saure Geschmack in seinem Mund nicht weg.
Wieder vibrierte sein Handy. Gerlinde Schäfer, seine Mitarbeiterin im Neusser Wahlkreisbüro, meldete sich. Sie war schon weit jenseits der sechzig, aber sie hing an der Aufgabe und Mierscheid hätte nicht gewusst, wie er ohne sie zurechtkommen sollte. Gerlinde hatte bereits für seinen Vater gearbeitet, als der noch Versicherungen verkaufte.
»Endlich gehst du ran, Lothar. Ich habe noch einen Termin vereinbart und hoffe, das geht in Ordnung. Das Feuerwehrfest in Rommerskirchen-Butzheim, morgen, neunzehn Uhr.«
»Kein Problem, aber erspar mir bitte die Diskothek heute Abend.«
»Du darfst deine Fans bei der Jungen Union nicht enttäuschen.«
»Fans?«
»Ich weiß auch nicht, warum, aber du hast einen Schlag bei den jungen Leuten. Du giltst als unabhängige Stimme in der Partei. Integer und unverbraucht.«
Ausgerechnet ich, dachte Mierscheid.
»Außerdem wird die Zeitung da sein.«
»Aber warum so spät?«
»Vor zehn Uhr geht kein Mensch in die Disco.«
»Begleitest du mich wenigstens?«
Gerlindes helles Lachen tönte aus dem Handy. »Höchstens zur Seniorenunion nachher um sechs. Ansonsten bleibt es beim Ablauf für morgen. Um zehn der Vortrag am erzbischöflichen Berufskolleg, danach Betriebsbesichtigung bei HGS in Reuschenberg …«
»Hilf mir auf die Sprünge.«
»Das Unternehmen produziert Extraktionsanlagen, Verdampfungskristallisatoren und Zentrifugen für die Nahrungsmittelindustrie zur Gewinnung von Dextrose und Fruktose.«
»Aha.«
»Mittagessen in der dortigen Kantine, dann Händeschütteln bei der Kreisbauernschaft. Vor dem Feuerwehrfest noch ein Fototermin für das hausinterne Blättchen der RWE Power AG in
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