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Schwarzer Schwan

Schwarzer Schwan

Titel: Schwarzer Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Eckert
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sich ein Vogel im Schneesturm? Sie: Siehst du, keiner weiß das. Keinen interessiert das. Keiner kümmert sich darum, ob der Vogel den Schneesturm überlebt. Ich könnte genauso gut tot sein. Ich: Das stimmt nicht. Mich interessiert das. Deine Tochter interessiert das. Unsere Eltern interessiert das und vielleicht auch deinen Mann. Doch sie widerspricht, behauptet, dass ich lüge.
    Für einen Moment bin ich sauer und denke: Dann tu es doch, bring dich endlich um.
    Ich hasse mich für diesen Gedanken.
    Mierscheid fragte sich, ob sich zwischen Paula und ihrer Schwester tatsächlich so ein Dialog abgespielt hatte oder ob es sich um eine weitere Skizze für ihr Romanprojekt handelte. Andere Eintragungen lasen sich ähnlich. Was war Fiktion, was hatte Paula wirklich erlebt?
    Drei Uhr. Noch ein allerletztes Glas, höchstens halb voll.
    Mierscheid schlug wieder die ersten Seiten des Tagebuchs auf und heulte, weil sie an ihn gedacht hatte: Wie mag es Lothar jetzt gehen? Hatte Paula ihn die ganze Zeit über geliebt wie er sie? Hätte er doch offensiver um sie geworben! Und warum waren sie sich nicht früher wiederbegegnet?
    Wie konnte das Leben so grausam sein?
    Paula würde noch leben, garantiert, wenn …
    Er las noch einmal ihre Abrechnung mit der Finanzwelt, mit Maltes Politik und ihrem eigenen jahrelangen Tun. Wütende, aber, wie Mierscheid zugeben musste, in sich stimmige Tiraden gegen ein System, das die Krise zum Dauerzustand machte und die Rechnung der Allgemeinheit präsentierte, während sich die Spekulanten im Sattel hielten.
    Erneut kamen Mierscheid die Tränen, doch dieses Mal weinte er wegen seiner eigenen Feigheit. Er würde es niemals schaffen, wie Paula die Konsequenzen zu ziehen.
    Paula war tot, aber ein Engel. Er nur ein Schwächling, eine arme Sau.
    Mierscheid stieß säuerlich auf. Beim Versuch nachzuschenken, bekleckerte er den Couchtisch und das Parkett. Mierscheid holte einen Lappen. Auf Holz würde Rotwein keine Flecken geben, zumindest hoffte er das.
    Als er sich wieder setzen wollte, rutschte er von der Sofakante und landete mit dem Hintern auf dem Fußboden. Er angelte den Châteauneuf vom Couchtisch und trank den Rest aus der Flasche.
    Die Morgensonne und der harte Boden weckten Mierscheid. Er trug die leeren Flaschen in die Abstellkammer und setzte Kaffee auf.
    Er öffnete die Fenster. Ein paar Stare zeterten im Garten. Ansonsten war es so still, dass Mierscheid das Tuckern der Frachtschiffe auf dem nahen Rhein hören konnte. Die Luft roch nach Gras und fühlte sich gut an.
    Der heutige Tag war mit Terminen vollgestopft. Um halb zehn würde Gerlinde ihn abholen. Sie würde wissen, was zuerst anstand: der Vortrag am erzbischöflichen Berufskolleg, der Besuch bei der Kreisbauernschaft oder die Betriebsbesichtigung in … Wo noch mal?
    Eher war Mierscheid nach einem Spaziergang zumute. Ordnung in seinen Kopf kriegen. Was er unbedingt erledigen musste: Paulas Tagebuch kopieren, das Original zurückbringen.
    Hatte er Informationen für die Polizei gefunden?
    Mierscheid kehrte ins Wohnzimmer zurück, nahm das Buch zur Hand und schlug eine Stelle auf, in der es um Constanze ging. Sie folgte unmittelbar auf den Abschnitt über den Vogel im Schneesturm.
    Er las die Sätze, die ihn in den Schlaf verfolgt hatten:
    Sie kann sich kaum erinnern, sagt sie, und erzählt doch jeden Tag mehr. Ich will nichts davon wissen, denn es wühlt uns beide zu sehr auf, wenn sie sich die Schmerzen von damals vergegenwärtigt. Die Ruhe und der Abstand sollen heilen, aber sie kann nicht aufhören, mit dem Vergewaltiger zu hadern, mit der Staatsanwaltschaft und mit ihrem Mann, der nichts versteht.
    Heute deutete sie an, dass es nicht bloß ein Täter war. Und erzählte, dass sie sich sehr gut an ein Tattoo erinnern könne. Als sie mir die Form in allen Details beschrieb, tat ich, als berührte mich das nicht. Dabei schockierte es mich mehr als alles andere.
    Es ist unmöglich! Es darf nicht wahr sein! Ich kann Conni nicht sagen, dass ich die kleine Sonne selbst schon gesehen habe. Sie würde sich falsche Hoffnungen machen. Sie würde mich fragen, was ich mit diesem Mann zu schaffen habe.
    Ich würde womöglich meine Schwester verlieren, ein für alle Mal.
    Aber kann ich mir wirklich sicher sein, dass er das nicht war? Wie gut kenne ich ihn überhaupt? Mit wem habe ich all die Ausflüge unternommen und das Bett geteilt? Wer ist der Mann, der mir von Zukunftsplänen erzählt, in denen ich eine Rolle spiele, und dessen

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