Schwarzer Schwan
aufgewühlt zu sein und voller Pläne: die Fronten wechseln, journalistisch arbeiten, den Roman schreiben, den sie im Kopf hatte.
Die Lektüre hatte Mierscheid verstört, vor allem der Anfang, als er selbst noch eine Rolle in Paulas Gedanken gespielt hatte. Die Notizen setzten mit ihrem Umzug nach Berlin ein, der im Tagebuch wie eine Trotzreaktion darauf wirkte, dass Mierscheid anfing, sich mit einer anderen zu treffen.
Er rief sich Gabi ins Gedächtnis, eine zierliche Brillenträgerin mit asymmetrischer Frisur, eine Kommilitonin Paulas. Nur sie konnte gemeint sein, doch Mierscheid war sich sicher, dass er erst mit Gabi gegangen war, nachdem Paula sich bereits für Malte entschieden hatte. Alles nur ein großes Missverständnis?
Mierscheid traf seine Entscheidung. Er holte eine zweite Flasche des gleichen Rotweins aus dem temperierten Schrank, schälte die Metallfolie vom Ende des Halses und drehte den Korken heraus.
Ein kleines Glas nur.
Gestern machte ich noch einen Scherz: Ich bin nicht eifersüchtig, aber ich könnte sie umbringen. Heute erfahre ich, dass sie einen Unfall hatte und im Krankenhaus liegt. Ich fühle mich wie eine Mörderin. Wie mag es Lothar jetzt gehen?
Mierscheid erinnerte sich dunkel: Beim Badminton war Gabi umgeknickt. Ein Bänderriss. Die Ärzte entschieden sich gegen eine Operation und schickten Gabi mit eingegipstem Fuß nach Hause. Als sie wieder laufen konnte, beendete Mierscheid die Beziehung, denn er kam sich unaufrichtig vor. Im Unterschied zu ihr hatte er keine Liebe empfunden. Seine Frauengeschichten waren nie von Dauer gewesen.
Ganz anders Paula: Sie war Malte viele Jahre lang treu geblieben.
Während sie zu Beginn alle paar Tage etwas über ihr Berliner Leben aufgeschrieben hatte, waren die Zeitsprünge bald größer geworden. Mierscheid begann ein zweites Mal in dem Buch zu blättern. Er überflog Passagen, in denen es um ihre Firma ging, Kollegen, neue Nachbarn. Um Maltes Aufstieg und die gelegentlichen Turbulenzen in seiner Behörde.
Interna aus dem Finanzministerium zogen vorbei, die Ära Lafontaine, Eichel, Steinbrück. In den letzten Jahren auch ab und zu Ideen für ein Buch: Figurenskizzen, Konfliktlinien, Szenenentwürfe. Offenbar Fiktion, ein tragisch-komischer Liebesroman, der in Regierungskreisen handeln sollte und den Paula nie wirklich in Angriff genommen hatte.
Mierscheid schien es, als habe sie sich vor allem in schlechten Zeiten an ihr Tagebuch erinnert. Einmal nannte sie es ihren »Mülleimer der Stimmungen und Verstimmungen«. Mit Beginn der Finanzkrise häuften sich Zweifel an ihrem Job sowie Vorwürfe gegen Malte. Sie bezeichnete ihn als »käuflich«, als »Befehlsempfänger der Bankenbosse«. Sie rechnete aus, dass Malte mehrere Milliarden Euro umverteilt habe, aus den Taschen der Steuerzahler in die Kassen der großen Geldinstitute. Auf weit über einhundert Milliarden würde es sich summieren, falls der Staat eines Tages für seine Bürgschaften geradestehen müsse.
Könnte hinkommen, dachte Mierscheid.
Nachdem sie mit Malte Schluss gemacht hatte, waren ihr die Eintragungen wieder wichtiger geworden. Ihren Ex nannte sie nur noch den »Staatssekretär«, bald erwähnte sie ihn gar nicht mehr. Mehr und mehr sorgte sie sich dagegen um ihre jüngere Schwester.
Das Mädchenhafte von Paulas Handschrift hatte sich über die Jahre bewahrt. Mierscheid glaubte, alles darin zu erkennen: ihre Güte, ihr Temperament, ihre wache Intelligenz.
Darauf einen großen Schluck.
Mierscheid las Andeutungen von Bettgeschichten. Doch Paula erwähnte keine Namen, nicht einmal von demjenigen, der ihr ernsthaft den Hof gemacht hatte. Stattdessen stieß Mierscheid auf Reiseeindrücke. Die Hagia Sophia in Istanbul, der Blumenkorso in Nizza, ein Fischrestaurant an der Côte d’Azur. Paula schien sich ihrer Gefühle nicht sicher gewesen zu sein.
Mierscheid erinnerte sich an die Worte von Sandra Apitz, Paulas Mitarbeiterin im Berliner Büro der Deutschen Börse: Chauffeur und Jacht und Privatjet. So einem gibt man doch nicht den Laufpass!
Dann die Reise mit ihrer Schwester, die gerade den Brief der Staatsanwaltschaft erhalten hatte. Dass die Ermittlungen gegen ihren unbekannten Vergewaltiger eingestellt worden waren, hatte Constanze sehr zu schaffen gemacht und es war Paula ein großes Bedürfnis gewesen, ihr beizustehen.
Mierscheid goss Rotwein nach, trank und griff wieder zu der Kladde.
Sie sagt: Ich fühle mich wie ein Vogel im Schneesturm. Ich sage: Und wie fühlt
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