Schwarzer Sonntag
wir sehen, ob wir einen Weg finden. Aber ich denke doch«, fuhr er fort und blinzelte Lander zu, »wir werden das schon irgendwie deichseln.«
Es war halb fünf, und der Feierabendverkehr hatte bereits begonnen, als Lander aus dem Amtsgebäude in den verpesteten New Yorker Nachmittag trat. Der Schweiß auf seinem Rücken erkaltete, während er auf den Stufen stand und zusah, wie sich Scharen von Menschen aus dem Konfektionsviertel zur UBahnstation der 23rd Street wälzten. Er hatte keine Lust, mit der Menge dort hinunterzugehen und eingepfercht im Zug zu stehen.
Viele der Beamten und Angestellten des Amtes machten zeitig Feierabend. Sie quollen aus den Türen des Gebäudes, drängten in alle Richtungen und schubsten ihn gegen die Mauer. Er wollte kämpfen. Plötzlich überfiel ihn der Gedanke an Margaret. Er konnte sie riechen, sie fühlen. Das Gespräch dort oben an einem Büroschreibtisch. Er mußte an irgend etwas anderes denken. Die Pfeife des Teekessels. Nein, um Himmels willen, nicht daran. Er spürte einen stechenden Schmerz im Dickdarm und suchte in seinen Taschen nach einer Lomotil-Tablette. Zu spät für Lomotil. Er mußte eine Toilette ausfindig machen. Schnell. Er ging zurück in den Warteraum. Die verbrauchte dumpfe Luft legte sich wie ein Spinnengewebe auf sein Gesicht. Er war kreideweiß, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er den kleinen Waschraum betrat. Die einzige Kabine war besetzt, und ein anderer Mann wartete vor der Tür. Lander machte kehrt und ging wieder durch den Warteraum. Darmkoliken, hieß es in dem ärztlichen Bericht. Ein Medikament hatte man ihm nicht verschrieben. Er hatte selbst herausgefunden, daß Lomotil ihm half.
Warum habe ich es nicht eher genommen?
Der Mann mit den ruhelosen Augen sah Lander nach, solange er ihn sehen konnte, ohne den Kopf zu drehen. Der Schmerz flutete jetzt in Wellen durch Landers Gedärm. Lander bekam eine Gänsehaut in den Armen, und ihm wurde übel.
Der dicke Hausmeister brauchte lange, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Dann ließ er Lander in den Waschraum der Angestellten. Da er draußen wartete, konnte er die unangenehmen Geräusche nicht hören. Schließlich wandte Lander erschöpft das Gesicht zur Decke. Das Würgen hatte ihm das Wasser in die Augen getrieben. Jetzt liefen ihm die Tränen über die Wangen.
Eine Sekunde lang war er wieder auf dem Gewaltmarsch nach Hanoi und hockte neben dem Pfad, während die Wachen ihm zusahen.
Es war das gleiche, immer das gleiche. Er hörte wieder die Pfeife des Teekessels.
»Arschlöcher«, sagte Lander mit heiserer Stimme. »Arschlöcher. « Mit seiner entstellten Hand wischte er sich das Gesicht ab.
Dahlia war den ganzen Tag unterwegs gewesen und hatte Besorgungen mit Landers Kreditkarten gemacht. Als der Zug eintraf, stand sie auf dem Bahnsteig. Sie sah, wie Lander sich behutsam vom Trittbrett herunterließ, und wußte, daß er bemüht war, jede Erschütterung seiner Eingeweide zu vermeiden.
Sie füllte einen Pappbecher mit Wasser aus dem Trinkwasserspender und nahm ein Fläschchen aus ihrer Handtasche. Das Wasser wurde milchig, als sie das schmerzstillende Mittel hineingoß.
Er sah sie erst, als sie neben ihm stand und ihm den Becher hinhielt.
Die Medizin schmeckte wie bitterer Lakritzensaft und hinterließ eine leichte Taubheit in den Lippen und in der Zunge. Noch ehe sie beim Wagen angelangt waren, hatte das Opium den Schmerz gelindert, und nach fünf Minuten war er gänzlich verschwunden. Als sie zu Hause ankamen, sank Lander aufs Bett und schlief drei Stunden lang.
Als er wieder aufwachte, war er verwirrt und unnatürlich munter. Seine Abwehrmechanismen funktionierten, und sein Geist wich vor allen schmerzlichen Bildern blitzschnell zurück. Seine Gedanken stürzten sich auf die heilen, schönen Bilder. Er hatte heute nichts verpatzt. Er konnte mit sich zufrieden sein. Der Teekessel - sein Hals straffte sich. Irgendwo zwischen seinen Schultern und seinem Hirn, an einer Stelle, die er nicht erreichen konnte, schien es ihn zu jucken. Seine Füße wollten nicht still liegen.
Im Haus war es völlig dunkel, und die Gespenster lauerten in der Finsternis, eben noch von seiner Willenskraft gebannt. Dann sah er vom Bett aus einen flackernden Schein die Treppe heraufkommen. Dahlia hielt eine Kerze in der Hand, und hinter ihr sah er ihren riesigen Schatten an der Wand. Sie trug einen langen dunklen Bademantel, der wie eine Mönchskutte aussah, und ihre bloßen Füße machten keinerlei
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