Schwarzer Valentinstag
nicht die Schreie der Mütter. Was hören sie überhaupt? Sie hören nichts!«
Sein Gesicht war ungesund weiß und voller Falten. Aber es war nicht mehr unheimlich wie in der Nacht. Die Augen waren blutunterlaufen.
Er ließ den Kopf wieder fallen und sagte leise und wie erschöpft: »Sie reißen die Säuglinge den Müttern von der Brust. Sie schichten Holz auf, sie schleppen die Menschen, jetzt, jetzt – «
Christoph überlief es: Wovon redete der?
Der Mönch sprach weiter sehr leise: »Alle verstehen es, wenn sie nur guten Willens sind – bonae voluntatis.«
Christoph zwang sich sitzen zu bleiben.
»Sie kreuzigen Jesus Christus ein zweites Mal.« Er machte eine lange Pause, der Kopf blieb gesenkt, dann flüsterte er: »Sie morden für sich selbst. Und sie sagen, es sei für Gott. Sie hören nicht das Wimmern der Säuglinge, sie hören nicht das Weinen der Kinder, sie hören nicht die Schreie der Mütter, sie achten nicht die Leiden der Väter. Sie quälen, wo sie lindern sollten. Sie fluchen, wenn sie Erlösung predigen. Sie streuen Hass, wo sie Liebe säen sollten. Sie ernten Tränen statt Lachen. Und alles geschieht beim Schein der Sonne!«
»Wo?« Christoph schrie es. Er war aufgesprungen. Es war, als hätte ihn eine gewaltige Faust gepackt. »Wo schichten sie Holz auf? Jetzt! Wo ist das?«
Freilich, das konnte am ganzen Oberrhein sein. Aber gab es überhaupt noch eine Stadt, wo das nicht schon geschehen war?
»Straßburg?« Er schrie es mit fremder Stimme.
Der Mönch fasste ihn am Arm: »Die Macht und das Gel?«, sagte er vertraulich, seine Stimme hatte nichts Ungewöhnliches mehr, »es gibt viele wie mich in der Kirche Gottes. Aber sie hören uns nicht, sie sagen, wir seien schädlich – «
Er schaute Christoph voll ins Gesicht: »Ich war Abt in einem Kloster bei Colmar. Dann haben sie in Benfeld beschlossen die Juden zu ermorden. Der Bischof selbst hat es vorgeschlagen.«
Seine Stimme wurde etwas lauter: »Ich habe dagegen gepredigt und Berthold von Buchegg, dem Bischof von Straßburg, einen Brief geschrieben: Die Juden sind Ungläubige, aber die Liebe ist größer als der Glaube – die Liebe ist das Größeste unter allem, sagt Paulus. Christus war sehr sanft und voller Liebe – die Liebe ist duldsam, die Liebe ist langmütig, die Liebe eifert nicht, die Liebe tötet nicht. Der Herr Bischof hat mich abgesetzt und sie werden mich als einen Ketzer verbrennen. Ich wollte heute Nacht zu ihm. Sie morden, wo sie Leben bringen sollten.«
Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Es war nicht möglich.
Von den Türmen der Stadt hörte man den Stundenschlag.
Von Entsetzen geschüttelt packte Christoph den Mönch: »Wo ist das? Wo geschieht das alles?«
Aber er wusste es ja, es war ja keine Stadt mehr übrig am Oberrhein. Er wusste es, als er zum Hause des Herrn Jakob Twinger rannte.
Er hatte es ihnen ins Gesicht gesagt. Er hatte gehofft, dass sie es verneinen würden, aber Herr Twinger hatte ihm die Hand auf den Kopf gelegt und Frau Twinger hatte ihm die Wange gestreichelt. Sie hatten Tränen in den Augen.
Sie hatten ihm das Bündel wiedergegeben.
Er kümmerte sich nicht um die Torwache, die nach dem Wohin fragte.
Frau Twinger hatte ihm zu dem Bündel ein leinenes Säckchen in die Hand gedrückt, darin sei Essen. Er hatte nicht darauf geachtet. In seinem Kopf war ein schriller Ton. Eine Glocke läutete unentwegt. In seinem Hals würgte Weinen.
Streckenweise rannte er, dann ging er wieder atemlos. Er würde kaum vor Einbruch der Dunkelheit in Straßburg sein. Er rechnete es aus, als es ihm langsam gelang, seine Gedanken zu ordnen. Er musste sich mit Gewalt zwingen die Bilder abzuweisen, die sich ihm aufdrängten – die Juden in den Gassen der Stadt, wie sie, eingequetscht in die johlende, höhnende und spottende Menge, stumm dahinzogen. Esther!
Weshalb war er nach Schlettstadt geschickt worden? Erst langsam stellten sich die Fragen ein.
Allmählich wurde klar: Abraham hatte ihm das Leben gerettet! Und es war sicher, dass dies im Einvernehmen mit Löb geschehen war. Aber weshalb ihm, weshalb nicht Esther und Nachum? Weshalb hatte sich nicht die ganze Familie gerettet, da sie doch offenbar am Vorabend vor dem Valentinstag von dem bevorstehenden Unheil wussten? Wusste es auch Esther? Sie hatte sich nicht von ihm verabschiedet! War ihr das zu schwer gefallen?
Schmerzlich sicher war, dass er ausgegrenzt worden war. Er sollte nicht mit ihnen sterben.
Als der Hunger überhand nahm und
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