Schwarzer Valentinstag
Schlettstadt.
Vielleicht überholt mich ja ein Fuhrwerk, auf dem ich aufsitzen kann, dachte er und griff bei jedem Schritt weit aus, aber offenbar wollte jetzt zu Beginn der Nacht niemand mehr nach Schlettstadt fahren. Viele Fuhrwerke kamen ihm entgegen und strebten dem Schutz der Stadtmauern zu.
Meist aber war er allein.
Dörfer durchquerte er, deren Namen er nicht kannte. Die Häuser kamen aus dem Dunkel und zogen vorbei, Hundegebell, Klirren und Schnauben aus den Ställen.
Er wusste, dass es auf der ganzen Strecke keinen einzigen Berg gab, so war das Wandern in dieser windstillen Nacht nicht schlimm.
Eine Geschichte fiel ihm ein, die Regine einmal erzählt hatte, den Schluss wusste er nicht mehr, hatte sie ihn nicht erzählt? Oder gab es keinen?
Jeden Tag stieg der Gaukler auf das Seil und tanzte. Er war ein großer Seiltänzer, dem die Leute zujubelten. Er verdiente viel Geld. Und er konnte viel auf dem Seil, vielleicht war er der Beste. Aber er wollte noch viel lernen: die Purzelbäume noch schneller schlagen, das Seil noch höher spannen, die Sprünge noch weiter machen. Eines Tages sah er von seinem Seil aus einen Mann in der Menge stehen, der jubelte nicht und lachte nicht. Mit unbewegtem Gesicht blickte er zu ihm herauf.
Ich bin der Tod, sagte der Mann, der auf ihn gewartet hatte, ich bin gekommen, dich zu holen!
Was kann ich machen, dass du mich nicht holst?, fragte der Gaukler.
Nichts, sagte der Tod, ich hole dich auf jeden Fall. Aber du kannst mit mir wetten, dass ich dich nicht hole, da hast du immerhin Hoffnung.
Der Gaukler schlug eine Wette vor: Du holst mich nicht, wenn ich auf dem Seil ein Rad schlage.
Ich hole dich, wenn du es nicht kannst.
Der Gaukler schlug ein Rad.
Nach sehr langer Zeit – ihm war es gewesen, als hätte er eine weit entfernte Kirchturmuhr viele Stunden schlagen hören – wurde es heller und ein milchiger Mond war zu ahnen. Kein Stern war zu sehen. Das Land um ihn weitete sich, ganz rechts glaubte er die schwarze Masse der Vogesen zu sehen. Bald musste er in Benfeld sein. Die Beine waren schwer und er trottete fast im Schlaf. Über den Feldern lag eine flache Nebelschicht, die sich manchmal über seinen Weg dehnte, dann befand er sich in einem Zwielicht und sah kaum die Hand vor den Augen. Es war kalt geworden, seitdem der Mond schärfer hervortrat.
Dann, als er fast ganz aus dem Nebel trat, sah er vor sich, offenbar an einer Wegekreuzung, eine Gruppe von drei Kreuzen aufragen. Zu ihren Füßen war eine Steinbank, auf der eine Gestalt kauerte. Christoph erschrak und verzögerte unwillkürlich den Schritt. Im Nähertreten sah er, dass die Gestalt auf den Knien lag und betete – ein Mönch, wie ihm schien.
Der Mönch betete, seine Stimme war undeutlich, als spreche er im Schlaf: »Herr Gott, des die Rache ist, erscheine. Erhebe dich, Du Richter der Welt; vergilt den Hoffartigen, was sie verdienen.«
Die Gestalt richtete sich auf, als Christoph an ihm vorbeiging.
»He, du!«
Christoph ging rascher. Der Mönch war aufgestanden und begann hinter ihm herzulaufen. Christoph ging noch schneller – was wollte der von ihm? »Ich habe keine Zeit!«, schrie Christoph und begann zu laufen.
»Wir müssen zum Bischof«, hörte er. »Du musst mit mir zum Bischof.«
Zum Bischof! Wie konnte man in der Nacht zum Bischof wollen, wenn alles schlief? Es war ja am Tag kaum möglich, wenn man kein Graf oder wenigstens ein Ritter war.
Das war ein Wahnsinniger. Es konnte nicht anders sein, jetzt mitten in der Nacht auf freiem Feld!
Christoph hörte das Rufen noch lange. Es verlor sich erst, als er die Mauern von Benfeld erreichte, die er umging, weil es ihm viel zu lange dauerte, bis der Torwächter die Pforte öffnen und ihn nach endloser Fragerei durchlassen würde. Er sah die Kirchtürme und das hohe Dach der Residenz des Bischofs wie Silber glänzen und dachte an das, was in diesem Hause Grausiges beschlossen worden war. Er dachte an den schrecklichen Herrn Dopfschütz, der seinen Vater verfolgt hatte und vielleicht auch ihn noch verfolgte, Herrn Dopfschütz, der offenbar die Macht hatte einen steinernen Turm mit einem Knall in die Luft zu jagen und der das Geheimnis, wie er das machte, mit Mord und Totschlag verteidigte, und der seltsamerweise der Beschützer der Straßburger Juden war.
Viele Stunden später war der Mond untergegangen und ein fahles Licht von Morgen her kündigte den Sonnenaufgang an. Es war bitterkalt geworden. Auf den Feldern ringsum lag der Reif
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