Schwarzer Valentinstag
Todes Eigen. Man muss sie ganz umgraben und nur ein wenig von unten in dem Erdreich stecken lassen. Danach einen Hund daran binden, und wenn der Hund demjenigen, der ihn daran gebunden hat, nachlaufen will, so zieht er die Wurzel heraus, stirbt aber alsbald davon, so wird er für den Menschen, der die Wurzel umgraben hat, ein Opfer. Das hat Josephus Flavius vor zwölfhundert Jahren geschrieben.«
Löb lächelte immer noch: »Wir können sie schon holen. Aber es ist eine weite Reise, viel weiter als zum nächsten Galgen. Ich weiß, wo die Wurzel wächst. Ich habe sie sogar schon oft wachsen sehen.«
»Und nicht geholt?«, schrien Esther, Christoph und Nachum.
»Nicht geholt.«
»Warum denn nicht? Hast du Angst gehabt?«
»Wo habt Ihr sie denn gesehen?«, fragte Regine.
»Nicht unter dem Galgen, sie wächst ganz normal an trockenen Berghängen in Italien. Ihre Blätter erinnern etwas an Rübenkraut. Ich habe zugeschaut, wie die Leute sie herausgemacht haben.«
»Und du bist nicht gestorben?« Esther hatte alle Finger im Mund.
»Ich bin nicht gestorben, du kannst es sehen.«
»Und wie – wie war das Schreien?«, fragte Esther atemlos.
»Es hat nicht geschrien, denk dir. Es war alles ganz still.«
»Vielleicht waren es gar nicht die richtigen Wurzeln – es waren gar keine echten Mandragora.«
»Doch, doch. Jedenfalls wurden sie von den Händlern aufgekauft und weggeschafft. Es waren wirklich Mandragorawurzeln: Ich habe sie in der Hand gehalten und mir genau angeschaut.«
»Es ist alles nur Gerede?« Philo begann einen Ball hochzuwerfen.
Wieder war Löb aufgestanden und hatte ein anderes Buch geholt: »Hier ist sie abgebildet, die Mandragora, euere Wurzel Alraune. Ihr könnt mir schon glauben.«
Sie starrten atemlos hinein: Wieder war die Schrift hebräisch. Ein Kraut war gemalt mit dicken, adrigen Rübenblättern und einer Wurzel, die sich spaltete und aussah, als würde ein Mensch die Beine kreuzen. Aus diesen Beinen wuchsen Haare heraus, die wie Menschenhaare aussahen.
»Ich habe sie bei Padua gesehen, sie wächst aber vor allem in Apulien am Berg Galgano oder Gargano, das mag der Sage vom Galgen Nahrung gegeben haben.«
»Also kein wirkliches Mittel gegen die Pest.« Esther sagte es traurig.
»Ich fürchte, es gibt so leicht kein Mittel gegen die Pest«, antwortete Löb.
»Dann sollte man den Betrügern aber gründlich das Handwerk legen«, sagte Nachum wütend.
»Ob die echte Mandragora gegen die Pest hilft, kann sicher kein Mensch sagen, sie muss ja schon nützlich sein, wenn das Wissen um sie so alt ist«, mahnte Löb, »aber diese nachgemachten, von denen Regine erzählt hat, helfen sicher nichts. Ich weiß übrigens, wie man sie macht: Man schnitzt die Figur, die ihr gesehen habt, aus einer Rohrwurzel, bohrt kleine Löchlein hinein und steckt in diese Löcher Gerstensamen. Das Ganze pflanzt man in heißen Sand, sodass die Gerste schnell keimt und ihre Wurzelfasern zu den Löchern herausstreckt – «
»Und das sind dann die Haare der Mandragora«, ergänzte Philo. »Das hilft freilich gegen keine Krankheit.«
»Nur diesem dicken Herrn mit seinen Knopfaugen. Dem helfen sie schon: Den machen sie reich!«, schloss Regine lachend.
»He, sagtest du dicker Herr und Knopfaugen? Ist das so ein rundlicher, kleinerer Kerl mit aufdringlicher Kleidung?«, fragte Philo aufgeregt.
»Klein, rundlich, würde ich sagen, und mit vorstehenden Augen, fast so wie bei einem Frosch«, nickte Regine.
Philo, Christoph und Esther tanzten in der Stube herum.
Die Tage wurden kürzer. Ein weißes Licht lag in der Luft. Abends verschwammen die Gassen im Dunst. Die Bauern brachten Obst und Nüsse auf die Märkte der Stadt. Ein Geruch nach fauligen Äpfeln und gärendem Saft erfüllte die Gassen. Die Straßen und Plätze wurden schmierig. Der Gestank des Gerberviertels drang zwischen die Häuser. Die ersten Blätter wurden gelb.
Zwei große Feste standen bevor und Esther und Nachum redeten von Rosch ha Schana und Jom Kippur.
»Kennst du nicht«, sagte Nachum, »Rosch ha Schana heißt Neujahr. Das und Jom Kippur sind unsere größten Feste.«
»Das schönste Fest ist aber das Chanukkafest«, Esther lächelte Christoph an, »es ist nicht mehr lange bis dahin, wenn erst einmal Rosch ha Schana und Jom Kippur waren.«
»Erst kommt Rosch ha Schana, das Neujahrsfest«, sagte Nachum streng. »Wir haben jetzt das Jahr fünftausendeinhundertneun und in wenigen Tagen werden wir das Jahr fünftausendeinhundertzehn
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