Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
Milchglasscheibe zu. »Schwester, bringen Sie mir bitte die Aufnahmeunterlagen.«
Die Latina eilte ihm mit einem Stapel gelbbrauner Patientenakten hinterher.
»Morgen nach dem Mittagessen. Okay, Baby?«, flüsterte Alfonso. Sie lächelte ihm zu, folgte dem Arzt und schloss die Tür hinter sich.
Alfonso packte die Griffe des Rollstuhls und schob ihn in den langen, verlassenen Flur hinaus. Das kalte Licht der summenden Leuchtstoffröhren spiegelte sich im blanken Linoleumboden. Plötzlich rannte der Pfleger los, sodass die Lichter nur so an Junior vorbeirauschten, dann sprang der massige Mann hinten auf das Gestell des Rollstuhls. Gemeinsam sausten sie den Flur hinunter.
»Wir haben ein Date, mein Freund«, lachte Alfonso. »Mit einer hübschen, wirklich hübschen Frau.«
Junior spürte, wie der Puls seines linken Handgelenks gegen den kühlen Stahl des Skalpells schlug.
O ja, Motherfucker. Wir haben allerdings ein Date.
11
Auf der Fahrt in die Schule saß Timmy still und in sich gekehrt im Bus. Er starrte aus dem Fenster, ohne sich am allgemeinen Toben und Gelächter zu beteiligen. Irgendwann wurden die Schüler so laut, dass Mr. Feeney, der Busfahrer, ihnen brüllend befahl, endlich die Klappe zu halten.
Der Bus fuhr am Friedhof vorbei. Timmy konnte über die Mauer hinweg das Grab seiner toten Mama und seiner kleinen Schwester sehen, die er gar nicht richtig kennengelernt hatte. Dann fiel ihm wieder ein, wie seine Mama ihn gestern Nacht aufgeweckt hatte, als ob sie ihn vor etwas warnen wollte. Und gleich danach hatte die Horrorshow angefangen.
So hatte er es nicht immer genannt: die Horrorshow. Beim ersten Mal war er zu klein gewesen, um ihr überhaupt einen Namen zu geben. Er hatte gerade erst Laufen gelernt und kaum über einen Stuhl sehen können. Die Erwachsenen waren ihm wie Riesen vorgekommen. Das war kurz nach dem Tod seiner Mama gewesen, als sein Daddy immer nur ruhig dagesessen und vor sich hingestarrt hatte und Skye versucht hatte, nett zu ihm zu sein, aber dauernd geweint hatte.
Wann immer Timmy nach seiner Mama gefragt hatte, hatten sie ihm gesagt, dass sie weg wäre. Im Himmel. Wann kommt sie denn wieder, hatte er gefragt. Nie, hatte Daddy gesagt. Nie mehr.
Das wollte Timmy nicht glauben und ging ins Schlafzimmer, um sie zu suchen.
Mama. Mama?
Seine Mama war nicht da. Nur ihr Nachthemd lag auf einem Stuhl. Timmy hob den weichen, glatten Stoff auf, der so nach Mama roch, und vergrub sein Gesicht darin.
Und da war die Horrorshow zum ersten Mal losgegangen. Er war im Schlafzimmer und hielt Mamas Nachthemd in den Händen, und da sah er Mama auf dem Rücken im Sand neben einer Straße liegen. Mama schrie und weinte und flehte einen Jesus-Mann und eine schmutzige Frau an, die auf ihr saßen und ihr wehtaten, und das Blut hatte ganz fürchterlich gespritzt, und sie zogen etwas Rotes und Faltiges aus Mama heraus, und als Mama schrie, lachten sich der Jesus-Mann und die schmutzige Frau halb tot.
Dann hatte Skye seinen Namen gerufen, Daddy hatte ihn hochgehoben und ganz fest gedrückt, und da war er zurück im Schlafzimmer gewesen und hatte so sehr geweint, dass er fast erstickt wäre.
Danach hatte er lange Zeit keines dieser Bilder mehr gesehen. Er wurde älter, und irgendwann waren sie wie ein fast vergessener Traum. Das redete er sich immer wieder ein: Es war nur ein Traum, Timmy. Nur ein Traum.
Ein paar Jahre später, als er vier oder fünf war, fuhr er mit Daddy zur Tankstelle. Während Daddy den Jeep auftankte, stieg Timmy aus, weil es so heiß war und ihm das Benzin in den Augen brannte. Sein Daddy hatte ihm einen Dollar gegeben, den er mit Daumen und Zeigefinger anschnippte, damit er sich wie ein Kreisel auf dem Asphalt vor den Zapfsäulen drehte. Daddy redete mit einem Mann in einem Pick-up und nickte, wenn der Mann etwas sagte.
Timmy ließ die Münze ein weiteres Mal kreisen. Sie geriet ins Taumeln und rollte unter die Bank vor dem Tankstellenladen, auf der ein dicker alter Mann mit dem Rücken zu Timmy saß. Timmy ging auf die Knie und streckte die Hand nach der silbernen Münze aus, die neben dem Schuh des Mannes lag. Es war ein schwarzer Slipper mit einem Loch in der Sohle.
Die weißen, haarlosen Beine steckten direkt in den Schuhen – wahrscheinlich war der Mann zu faul gewesen, um Socken anzuziehen – und verschwanden in grünen, ausgefransten Hosenbeinen. Timmy streckte sich noch weiter nach der Münze aus und roch seinen ekligen Alte-Leute-Geruch. Der Mann rutschte auf der
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