Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
Skye genau zwischen die Augen traf. Plötzlich hatte sie die Kontrolle zurückerlangt – ihr Körper strotzte vor irrsinniger Kraft, als sie die Seitentür des Wohnmobils so heftig aufriss, dass die Laufräder laut in der Schiene ratterten. Skye spuckte warmes Blut und Fleisch aus und rannte in die Nacht.
16
Gene Martindale wachte an Sheriff Milton Lavenders Sterbebett. Der alte Mann war verhärmt und zusammengesunken, da sein Darm und der Großteil der umliegenden Organe vom Krebs befallen waren. Er befand sich irgendwo zwischen hier und dem Jenseits – ein Ort, von dem aus er die Lebenden und die Toten gleichermaßen erreichen konnte. Seine Frau Roseanne, die vor vier Jahren verstorben war, erschien ihm genauso wirklich wie Gene, und er richtete seine unaufhörlichen Monologe, die traurig, langweilig und – was Gene am meisten verstörte – eindeutig sexueller Natur waren, an beide gleichermaßen.
Als der Sheriff und seine unfruchtbare Frau – die Schwester ihrer toten Mutter – Gene und Skye bei sich aufgenommen hatten, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass das Paar, das damals in den besten Jahren gewesen war, sich auch abseits des Schlafzimmers den fleischlichen Freuden hingegeben hatte.
Stoisch ließ Gene alles über sich ergehen. So viel schuldete er Lavender. Er fühlte sich verpflichtet, über seinen Onkel zu wachen, der sein Mentor gewesen und ihm alles über Gut und Böse und die menschlichen Stärken und Schwächen beigebracht hatte.
Daher war es auch selbstverständlich gewesen, dass Gene nach der Highschool zur Polizei gegangen war. Jahrelang galt es als beschlossene Sache, dass Gene Lavenders Nachfolger werden würde, wenn dieser den Job irgendwann an den Nagel hängte.
Zuvor allerdings hätte er sich gerne als rechte Hand seines Onkels seine Sporen verdient. Doch dazu war es nicht gekommen – Gene wünschte, es gäbe einen Gott, den er um ein Wunder anflehen konnte: dass sich der Krebs, der in Milton Lavender wütete, zurückbilden würde, sodass er wieder aufstehen und seine Pflicht tun und Gene die bequeme Rolle des Handlangers einnehmen konnte.
Dummerweise gab es keinen Gott und auch keine Wunder. Der alte Mann würde sterben und Gene für das Amt des Sheriffs kandidieren. So war es vorherbestimmt. Um sich selbst und seine Adoptivschwester zu schützen, würde er einen Deal mit Dellbert Drum eingehen müssen und zulassen, dass die giftigen Früchte von Drums und Tincups Arbeit ungehindert das County in Richtung Interstate und der großen Stadt passieren konnten.
Das war der Preis für seine Lügen. Für das Geheimnis, das ihn so wortkarg und eigenbrötlerisch hatte werden lassen. Dafür, dass er an diese Lügen geglaubt und sich eingeredet hatte, dass sich das, was in jener Nacht geschehen war, nicht wiederholen würde.
Der Vibrationsalarm des Handys in Genes Tasche erlöste ihn von der Seite des Todkranken, und er ging an der alten Frau vorbei, die, anders als alle Krankenschwestern, denen er bis jetzt begegnet war, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt war. Sie wartete im Schatten wie der Engel des Todes.
Gene sah die Nummer der Babysitterin auf dem Display, und die Angst packte ihn völlig unvorbereitet.
»Maria, was ist los? Ist was mit Timmy?«
Er hatte sie auf der Fahrt hierher angerufen und ihr befohlen, die Türen abzuschließen. Und ihn anzurufen, wenn Skye früher nach Hause kam.
»Nein, nein, Mr. Martindale. Timmy schläft. Aber meine Mutter ist krank, und sie hat niemanden, der …«
»Bin schon unterwegs«, sagte er und legte auf.
Gene stand einen Moment einfach da und starrte in den dunklen Raum, der einmal sein Kinderzimmer gewesen war. Seine Gedanken kreisten um Tod und Verlust, dann tauchte unvermittelt das Gesicht seines schlafenden Sohnes vor seinen Augen auf. Er war alles, was ihm von der Frau geblieben war, die er mit so großer Leidenschaft geliebt hatte, dass ihr Tod seine Welt aus den Angeln gerissen hatte.
Seufzend verdrängte Gene diese Erinnerungen und stellte sich in die Tür zu Lavenders Zimmer. Die alte Frau, die gerade den Morphiumtropf überprüfte, der im verschrumpelten Arm des Sheriffs steckte, sah zu ihm auf. Gene hatte kaum mehr als ein Nicken und einige gemurmelte Grüße mit ihr gewechselt, obwohl sie schon seit einer Woche hier war – als sie Lavender aus dem Krankenhaus der Bundeshauptstadt im Norden hierhertransportiert hatten, damit er in Ruhe zu Hause sterben konnte, war sie ebenfalls aus dem Sanitätsfahrzeug gestiegen.
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