Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
als Gene bereits im Wohnzimmer auf sie wartete. Er sah sie mit ernster Miene an. Das Buch lag auf dem Beistelltisch.
»Wo hast du das her?«, fragte er und tippte auf den Einband.
»Gefunden.«
»Wo gefunden?«
»Auf einem Sitz im Bus.«
Der Instinkt des Gesetzeshüters durchschaute die Lüge sofort. »Das hier ist Pornografie«, sagte er.
»Es ist Kunst«, sagte sie.
»Es ist pervers. Ich muss mir jeden Tag solche Sachen ansehen. Autounfälle. Morde. Selbstmorde. Ich bin dafür zuständig, dass man die Toten mit Respekt und Würde behandelt und nicht ausstellt wie im Gruselkabinett. Wusstest du, dass dieser Mann die Beamten jenseits der Grenze bestochen hat, damit er seine kranken Bilder machen konnte?«
Sie nickte. Das hatte sie im Vorwort gelesen.
»Das hier hat in meinem Haus nichts verloren. Hab ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja«, sagte sie.
Er nahm das Buch und fuhr mit dem Streifenwagen davon. Ein paar Tage später kam sie an Leonards Buchladen vorbei. Er war geschlossen und die Schaufenster verbarrikadiert. Leonard sah sie nie wieder, und irgendwann eröffnete dort ein Hundesalon.
Natürlich hatte sie die Fotos aus dem Buch und noch viele andere später im Internet gefunden. Sie surfte nachts, wenn Gene auf Streife war oder schlief, wobei sie sich nicht traute, die Bilder auf der Festplatte abzuspeichern. Ihr Bruder könnte ihr schließlich auf die Schliche kommen. Zur manisch-depressiven Musik von Joy Division, die aus ihren Kopfhörern dröhnte, verschlang sie förmlich die Bilder auf dem flackernden Monitor. Versuchte verzweifelt, etwas zu verstehen, was sich bisher ihrem Verständnis entzogen hatte.
Deshalb überraschte es Skye auch nicht, dass sie gestern Nacht beschlossen hatte, Drums Tod wie eine Performance zu gestalten. Jener Teil von ihr, der selbst im Anderen noch intakt geblieben war, brauchte die Distanz des Künstlichen, um gegenwärtig zu sein, um teilzunehmen und – ja – um zu genießen, was sie da tat.
Und genossen hatte sie es zweifellos. Zufrieden und ohne Gewissensbisse döste sie im sanft schaukelnden Bus ein. Drum hatte es verdient.
Timmys Schreie rissen sie aus dem Schlaf. Noch bevor sie die Augen öffnete, war sie schon auf den Beinen und spürte die Kraft, mit der sich der Andere in ihr erhob. Ihre Hände packten den Sitz vor ihr und strichen gegen die vor Haarlack strotzende schwarze Turmfrisur der Dame, die darauf saß.
Skye sah sich im Bus um, starrte die faltigen Senioren, die fetten Frauen mit ihren Bälgern und die milchgesichtigen Soldaten mit den kurz geschorenen Haaren an.
Es war nur ein Traum, Skye. Nur ein Traum.
Sie wollte sich gerade wieder hinsetzen und die Hitze des Anderen aus ihrem Blut scheuchen, als sie ein Bild mit solcher Klarheit vor Augen hatte, dass sie den Gang hinunterrannte und den Fahrer anschrie, er müsse sofort anhalten.
Sie sah einen gefesselten und geknebelten Timmy. Der Samtjesus stand mit einem Skalpell in der Hand über ihm. Sein lockiges Haar strich über die nackte Haut des Jungen, während sich die Klinge seiner Kehle näherte.
42
Junior Cotton fuhr das kleine grüne Auto mit der Konzentration eines Zen-Mönchs. Er hielt sich auf den staubigen Nebenstraßen, die um die Stadt herumführten, deren Skyline wie eine Fata Morgana aus der Wüste ragte. An Juniors Körper klebte nicht ein Tropfen Schweiß, obwohl das Auto keine Klimaanlage hatte. Er war völlig dehydriert, und ein stechender Schmerz in seinem Magen signalisierte ihm, dass er dringend etwas essen musste.
Letzte Nacht hatte er zwar das Blut der Krankenschwester getrunken, doch nachdem er jahrelang nur halb flüssige Pampe zu sich genommen hatte, konnte er nicht mehr wie früher herzhaft ins Fleisch beißen und auf den Knorpeln, dem Fett und den Adern herumkauen, wie es ihm seine Mama beigebracht hatte.
»Heute dinieren wir mit Stil , Junior«, hatte sie immer gesagt und ihn dabei mit rot verschmierten Zähnen angesehen, während sie ihre Portion eines der unzähligen Opfer vertilgt hatte.
Nach der Mahlzeit erlaubte sie sich immer einen kleinen damenhaften Rülpser – wobei sie sich eine perfekt manikürte Hand vor den Mund hielt –, säuberte ihr Gesicht mit einem parfümierten Frischetuch und zog den Lippenstift nach.
Junior spürte die Nässe einer einzelnen Träne, die aus seinem linken Auge quoll und seine Wange hinunterlief. Bevor sich der Tropfen im Bart verlief, fing er ihn mit dem Zeigefinger auf, steckte ihn in den Mund und spürte den scharfen
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