Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
denken wird? Lädt mich ein, und meine Leute räumen sein Haus leer. Ihr Mistviecher! Ihr habt keine Ahnung, was Ehre ist.»
Lorenz machte eine Bewegung des Protestes, als wolle er klarstellen, nie im Leben könnte er so etwas von seinem Gast denken. Aber Lwow ließ sich nicht besänftigen. Er goss einen Rest Wodka ins Glas, trank ihn selbst aus und schlug, als der blutende Saraj wieder aufgestanden war, erneut zu. Es folgten noch ein Schlag und noch ein Schlag. Irgendwann blieb Saraj liegen. Lwow nahm sich jetzt den zweiten Mann vor.
Es war ein Massaker. Erst als die Faust des Atamans wie ein blutender Fleischklumpen aussah, hörte er auf zu wüten. Mit Fußtritten stieß er die Kumpane zum Vorraum. Als Lorenz die Außentür endlich aufgeschlossen hatte, flohen die beiden mit letzten Kräften in die Dunkelheit.
Doch das Pech klebte in dieser Nacht an ihren Füßen.
Die Hunde hatten ihren Streifzug in dem Moment beendet. Sie mochten es nicht, wenn Fremde um das Haus herumlungerten.
II
Onkel Wasja hatte sein Versprechen gehalten: Auf dem Tisch stand eine Drei-Liter-Flasche mit jungem Rotwein. Etwas davon perlte bereits in ihren Gläsern. Ein sanfter, sonniger Nachmittag dehnte sich zum Abend. Draußen im Schatten der Bäume zirpten die Zikaden. Von dem gestampften Lehmboden atmete es kühl. Lorenz hatte seine Schuhe ausgezogen, um mit den blanken Füßen den glatten Boden zu spüren. Eine weiße Bahn dünnen Mulls wehte wie der Schleier einer mondänen Schönheit in der offenen Tür. In einem Land, in dem das Papier der «Prawda» die Gardinen an den Fenstern ersetzte, war das ein Hauch von Luxus und Eleganz.
Warum die Nachbarn Wasja «Onkel» nannten, wusste Lorenz nicht. Kinder oder andere Verwandte konnte er bei ihm nicht ausmachen; wenn es sie gab, hielten sie sich fern. Aber im Grunde ging es ihn ja auch nichts an. Jedes Dorf hatte seine Besonderheiten. Und nicht immer vermochte ein Außenstehender zu verstehen, warum etwas so und nicht anders hieß. Was an Onkel Wasja wirklich wichtig schien, waren im Grunde zwei Dinge.
Erstens: Er arbeitete in der Kolchose. Nicht auf dem Feld, nicht im Kolchosgarten, sondern in der Weinfabrik. Daher der neue Wein. Seine rote Nase verriet obendrein, dass die Arbeit für Onkel Wasja nicht allein schnöder Gelderwerb war, sondern dass er sie liebte. So inniglich wie eine gute Hälfte der männlichen Bevölkerung des Dorfes, die den Feierabend meist in Trance verbrachte. Darum beneideten die Bauern der umliegenden Ortschaften die Männer im Tal Koktebel.
Zweitens: Onkel Wasja kannte die Welt. Oder genauer gesagt, ihren verbrannten Teil. Im Krieg war er mit seiner Kompanie von der Wolga, wo er in eine Uniform gesteckt wurde, bis an die Elbe marschiert.
So saßen sie, tranken und sprachen über Russland und über Deutschland; wo es sich besser lebte, was die Menschen hier und dort einte oder eben unterschied. Onkel Wasja erregte sich über den Dauerregen, der sie im Frühjahr 45 auf ihrem Weg durch Feindesland begleitet hatte und den sie «Faschisten-Niesel» nannten, war aber auch voll des Lobes über die sauberen, ja trotz des Krieges fetten Städte und Dörfer. Auch Beute, einen Fotoapparat und zwei Uhren, hatte er mitgebracht und mehrere Freunde an der Oder begraben.
Für Lorenz war das Gespräch spannend und schmerzlich zugleich. Spannend, weil er wissen wollte, wie so ein einfacher Sergeant auf ein Land reagierte, das seinem Volk schreckliches Leid zugefügt hatte, aber auch so unvorstellbar weiter entwickelt war als das eigene. Schmerzlich, weil er selbst die Heimat seit nunmehr fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte und immer noch nicht wusste, wann er sie je wiedersehen würde. Ob nun Pieck oder Ulbricht, in Berlin machten sie keine Anstalten, den eigenen Leuten zu helfen. Die saßen weiterhin fest, verstreut über das riesige Sowjetland mit seinen unzähligen Lagern und Gefängnissen. Und ginge es nach den Parteioberen, würden sie für alle Ewigkeit dort bleiben.
Wieder zeichnete sich so ein merkwürdiger Winkelzug der Geschichte ab, ein Hakenschlag, wie ihn Lorenz in seinem Leben schon so oft zu spüren bekommen hatte: Die einzige Hoffnung für die Altkommunisten war der Antikommunist Adenauer. Seinem Verhandlungsgeschick hatten sie es zu verdanken, dass alle Deutschen, ausnahmslos alle – die Kriegsgefangenen, diejenigen, die KGB und Staatssicherheit auf den Straßen in der Ostzone verhaftet hatten, aber auch jene Opfer der Terrorwellen der dreißiger
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