Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
wie gesagt, da ist kein Rankommen. Das Land ist zwar durch und durch korrupt, und ich kenne niemanden von den Oberen, der nicht bestechlich wäre, aber im Kreml werden die schon aufpassen, damit nichts unkontrolliert aus dem ZK verschwindet.»
Man unterhielt sich noch eine Weile über die allgegenwärtige Plage der Korruption, zu der Lwow aus professionellen Gründen eine etwas andere Einstellung hatte. Dann stellte der Gast einige Fragen zu Deutschland, wie es dort um die Geschäfte stehe, ob die Syndikate in Berlin und Hamburg auch so schlagkräftig seien wie in Russland. Als Lorenz davon nicht viel zu berichten wusste und sich die Flasche langsam leerte, verebbte auch ihr Gespräch. Sie verabschiedeten sich. Mit einem leisen Funken Hoffnung dachte Lorenz noch einmal an das Redemanuskript, aber er würde es wohl nicht bekommen. Unter den Atamanen der Ganoven gab es viele Aufschneider.
Wochen vergingen. Der kurze Polarsommer ließ die Tundra erblühen. Lena und die Kinder fuhren in den Süden, auf die Krim. Dort hatte Lena in einem kleinen Dorf, nicht weit vom Meer, entfernte Verwandte ausfindig gemacht. Die waren hoch erfreut, ein Zimmer in den Ferien vermieten zu können. Es hatte eine Veranda und einen Ausgang in den üppigen Garten, in dem ein alter Maulbeerbaum stand. Die fünf bis sechs Tage dauernde Reise von Workuta über Kotlas und Moskau war eine Strapaze, man konnte keine durchgehende Fahrkarte lösen, Lena musste sich auf den Bahnhöfen immer wieder mit unfreundlichen Kassierern und Schaffnern herumschlagen. Für die Kinder dagegen glich die Reise einem einzigen Abenteuer. Selbst das Schlafen in der Wartehalle. Während die Jungs selig träumten, bewachte die Mutter die Koffer und dachte daran, wie schön es jetzt wäre, in einem Hotel zu übernachten. Aber das war in der Sowjetunion des Jahres 1956 für sie unmöglich.
Pawel, er ging inzwischen in die dritte Klasse, hatte große Ferien. Das hieß in Russland drei Monate schulfrei: Juni, Juli, August. Drei Monate Sonne, Baden und Weintrauben. Das konnte nur der gerechte Ausgleich sein für die restlichen neun Monate eines Jahres in Schnee, Wind, Kälte und Dunkelheit. Zum Schulanfang am 1. September tänzelten oft schon vor dem Fenster die Schneeflocken. Umgekehrt, wenn die Sommerferien begannen, war draußen nicht selten alles noch weiß. Da Lorenz nicht so viel Urlaub hatte, musste er noch in Workuta bleiben; er würde nachkommen.
Eines Abends, es war wohl noch drei oder vier Tage bis zur Abreise, stand plötzlich Lwow in der Tür der Werkstatt. Lorenz musste nicht lange nach seinem Namen suchen, er erinnerte sich genau an ihre Begegnung. Jovial lächelnd und elegant wie damals schob Lwow eine feste Ledertasche auf den Tisch. Die passte eher zu einem Ministerialmitarbeiter in Moskau als zu einem Urka in einer Lagerstadt. Sein Lächeln hatte jetzt etwas Überlegenes. Dann zog er einen Stapel Papiere aus der Tasche und legte ihn weihevoll auf den Tisch. Lorenz nahm das Deckblatt. Kein Zweifel: Vor ihm lag ein Originalexemplar von Chruschtschows Geheimbericht an den XX. Parteitag der KPdSU. Er nickte anerkennend. Nur die laufende Nummer oben rechts in der Ecke, an der man erkennen konnte, welchem Bonzen das Papier gehörte, die war herausgeschnitten.
Lwow sonnte sich in seinem Triumph.
«Ich gehe davon aus, es ist der richtige Bericht?»
«Ja. Da gibt es nichts zu wackeln: Es ist der Bericht. Und er ist vollständig. Ich schätze, es ist das einzige Exemplar jenseits des Polarkreises.»
Der Ataman nickte selbstgefällig.
«Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie es nicht geglaubt haben? Sie dachten, der Lwow ist ein Angeber.»
«Das ist etwas übertrieben, aber richtig, ich hielt es für unwahrscheinlich, dass Sie an das Papier rankommen. Was kostet die Sache?»
«Sie verstehen, die Leute, die das besorgten, hatten einige Auslagen. Auch der Mann, dem es gehörte, war nicht ganz billig. Obwohl, wir haben da so unsere speziellen Methoden. Er hat meinen Leuten die Zettelchen am Ende fast aufgedrängt.»
Auch wenn es Lorenz brennend interessierte, woher und auf welchen Wegen der Bericht nach Workuta gelangt war, hielt er es für gescheiter, keine Fragen zu stellen. Stattdessen wiederholte er nur:
«Wie viel?»
«Achthundert, ich glaube, es ist ein angemessener Preis.»
«In Ordnung.»
Lorenz wedelte mit den Blättern.
«Danke. Auch nach so vielen Jahren bin ich von diesem Land immer wieder überrascht.»
Er ließ offen, ob seine
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