Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
fahren, ließ ihn friedlich einschlafen.
Als er aufwachte, war ihm kalt, kalt und ungemütlich. Er tastete nach der Decke, doch die war nicht da. Er tastete nochmals, berührte mit der Hand die Dielen, aber auch dort lag keine Decke.
Merkwürdig. Sehr merkwürdig.
Plötzlich hörte er aus dem Dunkel des Nebenzimmers eine krächzende Stimme:
«Saraj? Saraj, bist du das?»
Es wurde wieder still. Jemand flüsterte. Es folgte eine lange Pause. Dann wieder diese verkaterte Stimme:
«Saraj! Ich weiß, dass du es bist! Mach Licht an!»
Krampfhaft versuchte Lorenz zu begreifen, was hier vor sich ging. Saraj, dieses Wort hatten die Russen aus dem Türkischen entliehen. Nur, dass die Russen aus dem türkischen «Haus» oder «Palast» einen «Schuppen» gemacht hatten. Die Sprache verriet wie so oft, was die Völker tatsächlich voneinander hielten. Ein türkischer Palast konnte aus russischer Sicht nur ein Schuppen sein. Aber welcher «Schuppen» war jetzt gemeint? Und wessen Stimme war das, die da aus dem Zimmer drang?
Das Licht flackerte. Auf der Bettkante saß ein von Schlaf und Alkohol benebelter Lwow in Unterhosen. An der Tür zum Korridor standen zwei Gestalten. Jede von ihnen hatte einen aus einer Decke gedrehten prallgefüllten Sack über der Schulter. Lorenz erkannte seine Bettdecke. Jetzt wusste er, warum ihn fror. Die Männer trugen seltsamerweise keine Schuhe. Der etwas kleinere hielt einen verstaubten Regenschirm in der Hand.
«Alexander, was ist hier los? Was sind das für Leute?»
Mit Entsetzen sah er ein metergroßes Loch in der Zimmerdecke, die am Abend noch unversehrt gewesen war. Das konnte nur eines bedeuten: Die beiden Diebe mussten über das Dach auf den flachen Boden gelangt sein. Dann hatten sie, sehr leise, ein Loch in die dünne Zimmerdecke gebohrt, den Regenschirm durch die Öffnung geschoben und aufgespannt. So konnten sie das Loch erweitern, ohne dass nur ein Stück Holz oder Putz polternd zu Boden fiel. Der Bauschutt landete im aufgespannten Schirm. Durch die Luke stiegen sie dann in aller Seelenruhe in die Wohnung ein. Aber sie hatten es übertrieben und den Schlafenden auch noch die Decken gestohlen. Das war ein Fehler. Die empfindliche Kühle weckte die Männer. Wiederum, die Diebe brauchten die Decken, um das zusammengeraffte Gut, Jacken, Mäntel und Schuhe, wegzuschleppen.
«Lorenz, misch dich hier nicht ein. Ich kläre das.»
Lwow sprach langsam, der Wodka machte ihm immer noch zu schaffen. Doch seine Stimme war gewohnt, Befehle zu geben. Lorenz blieb in der Tür stehen. Lwow hatte offensichtlich sofort verstanden, was das Ganze zu bedeuten hatte. Nun saß er in seiner Unterhose da und schaute die beiden an, die nicht in der Lage waren, sich zu rühren.
«Saraj, also wusste ich’s doch. Du kannst ja bei der Arbeit nie die Schnauze halten. Dein Organ hört man bis über den Fluss.»
Lwow machte eine Pause. Er dachte nach.
«Legt alles auf den Tisch. Vorsichtig!»
Das Auspacken dauerte einige Minuten. Dann gingen die beiden zur Tür und warteten, was geschehen würde.
Lwow stand auf, schleppte sich zum Tisch, auf dem noch der Wodka stand, würdigte die Sachen keines Blickes, und goss ein.
«Hier, Saraj, trink!»
Lwow schob ihm das halbvolle Glas zu. Der, den er Saraj nannte, tastete sich zu ihm.
«Ihr seid also in ein Haus eingebrochen, in dem ich verkehre?»
«Aber Alexander Viktorowitsch, versteh doch bitte, wir konnten doch nicht wissen …»
«Solltet ihr aber!», unterbrach ihn Lwow. «Trink aus!»
Saraj stürzte den Wodka runter. In dem Moment, in dem das Glas wieder auf dem Tisch stand, tat es einen Schlag. Lwow hatte ohne Vorwarnung und mit Wucht Saraj die Faust ins Gesicht geschlagen. Der flog an die Wand. Es dauerte, bis er die Fassung wiedererlangte. Dann wischte er sich das Blut mit dem Ärmel aus dem Gesicht.
«Saraj, komm her!»
Saraj zuckte zusammen. Lorenz ahnte, wie es weitergehen würde, und wollte einschreiten. Mit einer Handbewegung hielt Lwow ihn zurück.
«Misch dich nicht ein. Es ist unsere Sache! Saraj, komm her!»
Lorenz hielt inne, während Saraj langsam auf Lwow zuging. Der Wodka gluckste ins Glas. Wieder forderte Lwow den Einbrecher auf zu trinken. Dann schlug er wieder zu. Der Getroffene sackte zusammen. Das Blut spritzte auf die Dielen.
«Alexander, wir konnten doch nicht wissen, dass du hier …»
«Solltet ihr aber, solltet ihr aber!»
Er schniefte wütend.
«Was glaubt ihr eigentlich, was Lorenz Lorenzowitsch von mir
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