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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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immer noch Stellen, wo das Eis heimtückisch dünn blieb und man einbrechen konnte. Der letzte dieser tragischen Fälle lag zwar schon eine Zeit zurück, doch die Mütter sorgten sich trotzdem.
    Der verschneite Weg entlang den Schienen war nur scheinbar der bessere. Immer wieder geschah es, dass meinem Bruder in der Dunkelheit eine Sträflingskolonne entgegenkam. Dann musste er ausweichen. Bauchtief im Schnee wartete er, bis das endlose schwarze Band der Häftlinge samt Bewachern und Hunden an ihm vorbeigezogen war. Vom müden Licht einer Taschenlampe geblendet, stand er da wie erstarrt und hoffte, der unheimliche Zug wäre bald vorüber. Die Gefangenen rückten aus, um irgendwo Schnee in der Tundra zu schaufeln oder eingefrorene Kohlewaggons zu entladen. Hin und wieder sah er in ihre ausgezehrten Gesichter, die ihn voller Erstaunen anstarrten. Ein Junge, ein Kind, hier mitten im Schnee. Es musste ihnen wie eine Erscheinung vorgekommen sein.
    Jetzt hatte sich der Wind fast gelegt. Über den Hof wehten nur noch wenige weiße Schleier aus Eiskristallen. Vorbei an dem rostigen Karussell, das mein Vater zusammengeschweißt und zur Freude von uns Kindern im Hofkarree aufgestellt hatte. Der Wind streifte die Mauer des gegenüberliegenden Hauses und erreichte bald den Hügel, auf dem der mit eisiger Glasur überzogene Wachturm und der Stacheldraht die «Lagerzone» von der restlichen Welt trennte.
    Es war kalt geworden. Sehr kalt.
    Wir Kinder hatten unsere eigene Methode, das festzustellen: Wenn die Spucke in der Luft gefror und als Eisstück klirrend auf dem Boden landete, musste man vorsichtig sein. Das war so ein Tag. Doch im Haus bleiben hieß vor Langeweile sterben. Es war vor allem die meterhohe Schneewehe unter dem Wachturm, die uns lockte. Nach langem Quengeln erlosch der Widerstand der Mutter, der besonders stark war, da sie aus dem Süden stammte und schon bei ein bisschen Frost fürchtete, den Kindern könnten Finger oder Zehen abfrieren. Bis auf die Nasenspitze in den Schafspelz eingepackt, rannte ich hinaus in die schneidend kratzige Luft. Die anderen vom Hof warteten schon. Los ging’s zum Wachturm, der hoch über dem Hof thronte. Nacheinander kletterten wir über die von Eis lackierten Sprossen die Leiter hinauf.
    Der Wachmann blickte aus dem offenen Fensterchen seiner Bretterbude grimmig herunter, aber er verscheuchte uns nicht. Mit seinem riesigen Schnurrbart und dem Gewehr kam er uns ziemlich unheimlich vor. Doch da er weder schimpfte noch drohte und auch nicht aus seinem Verhau herauskam, vergaßen wir ihn bald.
    Der Sprung von der höchsten Sprosse der Leiter in die Schneewehe hinein – so musste Fliegen sein. Wieder und wieder wollten wir das Kribbeln im Bauch spüren. Kaum war man unten und hatte sich unter Prusten und lautem Geschrei aus dem Schnee gegraben, ging es wieder hinauf. Wer schlappmachte oder sich nicht traute, von ganz oben zu springen, würde es die nächsten Tage zu spüren bekommen. Der demütigende Spott des ganzen Hofs war ihm gewiss. Die Kleinen lernten schnell von den Großen.
    «Passt nur auf, fallt nicht zu den Hunden rein! Die sind heute noch nicht gefüttert», brüllte der Soldat aus seinem Guckloch.
    «Die Hunde», das war eine Horde an Laufleinen festgezurrter Bestien, die zwischen den Reihen des doppelten Stacheldrahtzauns hin und her hetzten und dafür sorgten, dass keiner auf den Gedanken kam, aus der Lagerzone auszubrechen. Mit diesen Hunden wollte niemand etwas zu tun haben, selbst wenn sie einmal satt sein sollten. Heute machte sie die Kälte und das Kreischen der Kinder nur noch wütender.
    Aber das kannten wir. Was gingen uns die Hunde an? Wir konnten fliegen! Nicht lange, und wir sahen aus wie in Schnee paniert. Aber das war immer so, und das war nicht schlimm, vielmehr kam es darauf an, wer die meisten Sprünge schaffte, der war der König des Rudnik.
    Irgendwann war es dann so weit, Petka kam wie ein Stein vom Himmel geflogen, warf sich breit, mit offenen Armen und dem Gesicht nach unten in die Schneewehe und schrie:
    «Ich bin tot! Ich bin tot!»
    Ihm hinterher fiel nun einer nach dem anderen: Jegorka, Sascha, Wowka und ich. Wir brüllten, was das Zeug hielt:
    «Ich bin auch tot! Ich auch! Ich auch!»
    Dann war der Spaß vorbei. Über uns donnerte drohend der Gewehrkolben auf den Boden des Wachturms. Der Soldat schrie:
    «Genug! Haut ab jetzt!»
    Der Tod anderer, das war sein Leben. Wie viele der ausgemergelten Gestalten der Wachmann auf dem Gewissen hatte,

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