Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
bestätigen?»
«In Feodossija? In der Stadt? Das ist zum Baden viel zu weit. Fast zwei Stunden mit dem Bus. Außerdem ist unser Strand hier viel besser. Kein Mensch aus dem Dorf geht in der Stadt baden. Außerdem ist die Landschaft hier schöner. Allein der Kara Dag lohnt den Weg. Der alte Vulkan ist prächtig.»
«Schweifen Sie nicht ab. Wer kann das bestätigen?»
«Bestätigen kann es meine Frau, die Kinder.»
«Das reicht nicht. Hat Sie noch jemand gesehen?»
«Ja, auf dem Hinweg der Busfahrer. Am Strand die Händler. Wir haben Gurken gekauft und Kirschen. Und ein Glas gerösteter Sonnenblumenkerne. Dann haben uns bestimmt ein halbes Dutzend Menschen beim Baden gesehen. Auch der Fahrer des Kolchoslasters, der hat uns auf dem Rückweg bis zur Kreuzung mitgenommen. Reicht das? Aber sagen Sie mir, wofür brauche ich Zeugen?»
Der Milizionär schrieb langsam Wort für Wort in das Heft. Der andere schwieg. So musste Lorenz warten, bis alles protokolliert war. Der Schreiber legte endlich den Stift weg, er schaute sehnsüchtig zur Weinflasche.
«Ich glaube, wir sind jetzt fertig, was meinst du, Kolja?»
Kolja brummte Unverständliches. Sein Kollege deutete es:
«Steht die Einladung noch?»
«Ja, sicher.»
Auch wenn der Wein nicht ihm gehörte, Lorenz goss den beiden ein. Wie auf Kommando stand Onkel Wasja wieder im Zimmer.
«Hey, Semjon, was treibt euch hierher?»
Schnell kamen zwei weitere Gläser auf den Tisch, alle prosteten sich zu.
«Ach, Wasja, eigentlich dürfen wir es ja nicht sagen. Aber morgen weiß es ohnehin jeder. In Feodossija haben sie heute die Sparkasse ausgeräumt. Es muss ein schönes Sümmchen im Stahlschrank gelegen haben. Jedenfalls ist die Obrigkeit aufgeregt.»
Semjon leerte sein Glas und gab zu verstehen, er würde nicht weiterreden, bis das Glas nachgefüllt war. Onkel Wasja beeilte sich.
«Und was hat Lorenz damit zu tun?»
«Na ja, jetzt sind alle ausgeschwärmt. Und jemand, der aus Workuta kommt, der könnte ja so etwas schon mal probiert haben.»
Onkel Wasja schaute ihn verdutzt an. Lorenz leckte sich die vor Aufregung ausgetrockneten Lippen. Wer von da oben kam, war unter Verdacht. Immer würde dieses Workuta an ihm kleben. Ein Mal auf der Stirn. Immer.
«Aber ihr wisst doch, was in Workuta los war?»
Onkel Wasja übernahm das Gespräch, er sah wohl, wie in Lorenz der Zorn aufflammte.
«Na klar wissen wir das. Aber es saßen doch nicht nur ehrliche Leute im Lager. Oder?»
Das Jahr 1957:
Großes Foto: Lena, Pawel und Sergej in den Ferien auf der Krim. Kleines Foto: Lorenz Lochthofen Mitte der fünfziger Jahre. Unterlage: sein sowjetischer Pass.
Der erste Trabant verlässt das Band im sächsischen Zwickau. Im Algerienkrieg gehen französische Truppen brutal gegen die Befreiungsbewegung vor. Die USA teilen mit, dass ihre Streitkräfte in der Bundesrepublik über Atomwaffen verfügen. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge wird die EWG gegründet. Der Start des Sputnik versetzt dem Westen einen Schock. In der DDR wird das ungesetzliche Verlassen des Landes als Republikflucht bestraft. In Ostberlin werden wegen angeblicher konterrevolutionärer Tätigkeit Wolfgang Harich und Walter Janka zu Zuchthausstrafen verurteilt. Der Roman «Homo Faber» von Max Frisch erscheint. Doris Day singt «Que Sera, Sera».
1957
Ich weiß nicht, wo diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Für mich beginnt sie mit der Purga, dem eisigen Sturm im russischen Norden. Der hatte am Vortag von morgens bis abends getobt. Keines der Kinder durfte hinaus. Zu kalt. Nur Pascha, mein sechs Jahre älterer Bruder, hatte keine Wahl. Er musste in die Schule. Ein Schneesturm galt nicht als Entschuldigung. Eingemummt in seinen Mantel, die Schapka tief in die Stirn gezogen, den Schal festgebunden, verschwand er im Dunkel des Polarmorgens. Seine Kraft reichte kaum aus, um die mit angewehtem Schnee festgebackene Tür des Vorbaus aufzubekommen. Kein Licht, keine noch so matt glimmende Lampe erhellte den Pfad. Nur Dunkelheit, begleitet von Eiskristallen, die ein unerbittlicher Wind trieb.
Die Mutter hatte ihm eingeschärft, er solle sich ja an die Bahnschienen halten. Die führten zum 40. Schacht, auf halbem Weg lag die Schule. Auf keinen Fall durfte Pawel die Straße unten am Fluss nehmen. Die Workuta, die allem – dem Schrecklichen wie dem Guten – ihren Namen gab, war längst zugefroren, so dass am Tag Pferdegespanne und kleine Lastwagen mitten auf dem Eis fahren konnten. Doch nah beim Ufer gab es
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