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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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KGB-Ermittler machten sich keine Mühe, ihr Vorgehen zu tarnen. Sie breiteten sich am helllichten Tag in der Wohnung des Verdächtigten aus und legten sich mit ihrer monströsen Apparatur auf die Lauer, um die Funksprüche direkt an der Quelle abzufangen. Daher die Röhren, daher die Kopfhörer. Ihr Kalkül war einfach: Ist der Vater ihr Mann, so wird er angesichts der Bedrohung das Senden zur gewohnten Zeit aussetzen. Schon hätten sie ihn. Sendete er dennoch weiter aus dem Haus heraus, so hätten sie ihn erst recht. Leutnant Baranow, der den famosen Plan ausgeheckt hatte und dem die schmutzigen Stiefel gehörten, ließ es sich nicht nehmen, selbst in die Wohnung des Deutschen zu ziehen. Fieberhaft wartete er auf den Dienstag. Als es dann doch im Äther zu piepsen anfing, stürmten die Aufklärer in die Küche, dorthin, wo sie den Agenten vermuteten. Das idyllische Bild einer Familie bei der Prawda-Lektüre musste sie herb enttäuschen. Der Vater war nicht ihr Mann.
    Als echter Spion wurde kein deutscher Ingenieur, sondern ein ukrainischer Invalide enttarnt. Er hatte sich, da es in Russland auch für Beinamputierte keine Rollstühle gab, ein Wägelchen gezimmert. Vier Räder, zusammengehalten von einem Holzkasten, auf dem er mit seinen Stumpen saß. Die Hände benutzte er als Antrieb. So zog er von einer Ecke der Stadt in die andere und bat um Almosen. Ein zutiefst mitleiderweckendes Geschöpf. Im Holzkasten des Wagens war der Sender versteckt. Irgendwann fassten sie ihn doch. Einige meinten, er sei durch seine Berichte zum Millionär geworden. Andere hielten dagegen, dass es in Workuta keine einzige Neuigkeit, rein gar nichts gebe, was den Einsatz auch nur von ein paar hundert Dollar lohnte. Wie auch immer, der Mann wurde erschossen. Bald war die Angelegenheit vergessen.

II
    Lorenz kam von einer abenteuerlichen Fahrt nach Chalmer-Ju zurück, einer Siedlung sechzig Kilometer nördlich von Workuta, fast an der Karasee. Drei Tage war er unterwegs gewesen. Der Kalender zeigte Frühling, doch vom Eismeer wehte ein heftiger Schneesturm herein. Die Tundra lag wieder in Weiß. Die Blüten des Polarmohns zitterten im Wind. Mit der Draisine war es erst bis zu jener unwirtlichen Siedlung gegangen, in der es aber immerhin einen Kohleschacht gab, dann weiter mit Pferden. Auf der Basisstation am «Toten Fluss» hatten die Geologen zum wiederholten Mal und sehr zu Lorenz’ Verdruss die Bohranlage abgewürgt. Er musste versuchen, sie in der Wildnis wieder in Gang zu bringen.
    Die neue Aufgabe als Hauptmechaniker der geologischen Expedition, deren Hunderte Mitarbeiter in der Region verstreut nach Öl, Gold und seltenen Mineralien suchten, interessierte ihn mehr als die Arbeit im Baustoffwerk. Doch er spürte die Strapazen der Wildnis, seine Kräfte hatten nachgelassen. Jetzt war er hundemüde. Dennoch schaute er im Hauptquartier vorbei, um mitzuteilen, dass alles wieder in Ordnung sei. Er stutzte, auf seinem Schreibtisch lag ein Zettel. Noch an diesem Nachmittag sollte er sich in der KGB-Zentrale melden, Hauptmann Moskin wünsche ihn zu sprechen.
    Sofort verflog alle Müdigkeit. Die Angst war sofort wieder da. Der KGB blieb wie der NKWD unberechenbar und allgegenwärtig. Es waren immer noch fast hunderttausend Mann, die in den Lagern Workutas saßen, die Verbannten nicht mitgerechnet. Nach und nach verließen ganze Völkerschaften die Region. Die Polen waren schon fast alle weg. Auch die Deutschen hatte Adenauer den Russen abverhandelt. Nach menschlichem Ermessen musste Lorenz für sich und seine Familie die Ausreisepapiere in diesen Tagen erhalten. Ein entsprechender Ukas, ein Befehl Moskaus, sollte es jetzt endlich ermöglichen. Doch die Entscheidung verzögerte sich immer wieder.
    Sicher, er war kein Kriegsverbrecher, kein Angehöriger der Wehrmacht, er hatte sich auch nicht an Gräueltaten beteiligt. Dann hätte er die Ausreisepapiere aus der Sowjetunion bestimmt längst. Nein, es war viel schlimmer, er war ein Politischer, ein Zeuge, und die blieben am besten dort, wo sie waren. So hatte das sowjetische Rote Kreuz, das pro forma mit den Formalitäten der Rückführung von Gefangenen betraut war, seinen Fall ablehnend beschieden. Für ihn sollte es keine Ausreise geben. In einem lapidaren Schreiben hieß es, aus sowjetischer Sicht sei das «nicht zielführend». Wieder setzte sich Lorenz hin, wieder schrieb er an Pieck, wieder bekam er von dem einstigen KPD-Chef und DDR-Präsidenten keine Antwort. Das Büro Pieck delegierte

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