Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Tagelang war der grausige Fund das Gespräch Nummer eins auf den Höfen. Warum? Wieso? Wer? Auf keine der Fragen gab es je eine Antwort. Am Ende einigte man sich darauf, dass die Kriminellen den Kerl im Kartenspiel als Pfand gesetzt hatten. Das kam vor. Das verstand hier jeder.
Schreiend lief ich ins Haus, die Finger reglos. Doch statt mir beizustehen, schnappte die Mutter meine Hände, zog mich zum Waschbecken und drehte das kalte Wasser auf. Ich schrie noch lauter. Das konnte nicht wahr sein: Statt Trost gab es kaltes Wasser. Eiskaltes Wasser. Ich schrie und schrie und schrie. Obwohl ich längst gemerkt hatte, dass sich das eisige Wasser plötzlich warm und mild anfühlte. Langsam kehrte das Leben zurück. Nach den Händen wurden die Füße der gleichen Prozedur unterzogen.
Als der Vater heimkam, saß ich auf einem Hocker und hielt die Beine in eine Schüssel mit heißem Wasser, in dem Salz aufgelöst war. Kara stand neben mir und leckte sorgenvoll meine Finger. Sicher nicht ohne Hintergedanken. Der Mutter gefallen, das hieß meist auch, einen Happen außer der Reihe abzustauben.
Alle lebten. Nichts war abgefroren. Bald gab es Abendbrot.
Das Jahr 1958:
Großes Foto: Atelieraufnahme der Familie Lochthofen im Oktober 1958 in Moskau, unmittelbar vor der Abreise nach Deutschland. Kleines Foto: Letzte Ausfahrt von Lorenz Lochthofen mit seinem Motorrad «Ish» am Ufer der Workuta. Unterlage: Das Schreiben Juri Andropows an die für die Ausreise aus der UdSSR zuständige Kommission.
Erste Rezession der Nachkriegszeit. In Flensburg wird die Verkehrssünderkartei eingerichtet. In London nehmen über 1000 Teilnehmer am ersten Ostermarsch gegen nukleare Aufrüstung teil. Die DDR schafft die Lebensmittelmarken ab. Hinrichtung der Führer des Ungarn-Aufstandes. In Schweden wird der erste Herzschrittmacher implantiert. Mit dem Ultimatum Nikita Chruschtschows beginnt die Berlin-Krise. Walter Ulbricht verkündet die Absicht, bis 1961 die BRD beim Lebensstandard zu überholen. Boris Pasternak darf den Nobelpreis für «Doktor Schiwago» nicht annehmen. Von den USA aus breitet sich die erste Fitnessbewegung, das «Hula-Hoop-Fieber», über Europa aus.
1958
I
Ich sah die schmutzigen Stiefel und wusste sofort: Der Mann gefällt dir nicht. Der Vater war in seiner Werkstatt, Pascha in der Schule. Und dann stand da einer, den niemand kannte, und der bestand auch noch darauf, dass man ihn ins Haus ließ. Die Mutter hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet. Sie wechselte mit dem Unbekannten wenige Worte, die ich nicht verstehen konnte, dann brachte sie die Hunde in die Küche und sperrte sie dort ein. Erst danach öffnete sie die Tür. Der Mann schleppte Holzkisten, beschlagen mit Metallbändern und in Militärgrün gestrichen, ins Haus. Er lud alles in Vaters Zimmer ab, dann schloss er von innen zu. Ich schaute die Mutter an. Sie sagte nichts. Und mir war klar, es wäre besser, ich hielte auch den Mund.
Die Merkwürdigkeiten nahmen kein Ende. Als der Vater am Abend von der Arbeit kam, ging er nicht wie gewohnt in sein Zimmer, um sich umzuziehen, sondern hängte die Jacke im Flur auf. Auch am Tisch, es gab Bratkartoffeln, taten alle so, als sei es das Normalste von der Welt, dass in unsere Wohnung ein wildfremder Mann eingezogen war. Jede meiner Fragen wurde im Ansatz unterbunden. Offensichtlich wollte sich niemand unterhalten. Auch Pascha nicht, dem ich ansah, dass er mehr wusste, aber zum Schweigen verdonnert war. Es war nichts zu machen.
Am kommenden Tag hatte ich den Fremden schon vergessen. Zu dritt, mit Petka und dem etwas älteren Jegorka, hatten wir einen ausgedehnten Streifzug am Fluss unternommen. Als ich zurückkam, musste ich mit Verwunderung feststellen, dass Vaters Zimmer nicht nur ein fremder Mann, sondern inzwischen noch ein zweiter bewohnte. Die Tür im Korridor stand einen Spalt offen. Im Vorbeigehen sah ich die Fremden auf dem Fußboden an einer Apparatur sitzen. Überall Drähte und Röhren wie im Inneren eines Radios. Das musste der Inhalt der Holzkisten sein. Der neue Mann hatte sogar Kopfhörer auf. Als sie mich im Korridor sahen, schlug einer die Tür zu.
Mehr konnte ich vorerst nicht in Erfahrung bringen. Ich merkte nur, dass die Stimmung im Haus angespannt war. Vor allem der Vater reagierte gereizt, er regte sich nicht nur über die beiden Untermieter auf, auch mein Bruder hatte ihm eine Freude gemacht. In der Schule malte Pascha seiner Banknachbarin Swetlana eine Luftschlacht quer über zwei
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