Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
L. Lochthofen und bekam zwei Kinder.
Unter Berücksichtigung dessen, dass die Alförowa-Lochthofen ohne Vater und Mutter aufgewachsen ist, sie im Komsomol und in einer Berufsschule erzogen wurde, aber auch der Tatsache, dass ihr Vater als Rentner ihr keinerlei ernsthafte materielle Unterstützung bei der Erziehung der Kinder gewähren kann, falls Lorenz Lochthofen in die DDR allein ausreist, hält es das ZK für möglich, der Bitte des ZK der SED zu entsprechen, die Ausreise der Familie Lochthofen zum ständigen Wohnsitz in die DDR zu genehmigen.
Leiter der Abteilung des ZK der KPdSU für die Verbindungen mit kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder
J. Andropow»
Für ihn schien damit der Fall erledigt. Für einen Apparatschik hatte er eine ungewöhnliche Entscheidung getroffen. Doch «die Organe» spielten nicht mit. Mit fettem Rotstift schrieb der zuständige KGB-Mann quer über den Brief des ZK-Aufsteigers: «Es bedarf überhaupt keiner Antwort». Das hieß, der Ausreiseantrag war damit abgelehnt. Die Kommission für Ausreisefragen beim ZK der KPdSU schloss sich der Meinung des Geheimdienstes an und lehnte den Antrag Nr. 186-A/116 des Bürgers Lorenz Lochthofen auf Ausreise in die DDR samt Frau und Kindern gleichfalls ab. Ein gewisser Schechanow berichtete in der entscheidenden Sitzung Unerhörtes über diesen Lochthofen: «Der Antragsteller ist nicht nur in Dortmund geboren, sondern hat sogar Verwandte (Mutter und zwei Schwestern) in der BRD. Nicht genug, die Schwester seiner Frau, Nina Alförowa, lebt in England.»
Die Akte Lochthofen wurde auf Betreiben des KGB geschlossen.
Doch es blieb nicht dabei. Nicht antworten mochte in Moskau ein probates Mittel sein, lästigen Entscheidungen auszuweichen. In den Beziehungen über Ländergrenzen hinweg gelang das immer seltener, auch wenn von Souveränität der sozialistischen Bruderstaaten kaum die Rede sein konnte. Es kamen weitere Briefe aus Ostberlin, vorsichtig im Ton, aber klar in der Zielsetzung. Wieder wanderte die Mappe «Lochthofen» in Moskau von Tisch zu Tisch, ein ganzes Jahr lang.
Von all diesen Vorgängen wusste Lorenz nichts, aber er ahnte, dass die Einladung ins «schlaue Häuschen» etwas mit dem Ausreiseantrag zu tun haben musste. Bevor er die Wattejacke überstreifte, zog er ein Jackett an und band sich eine Krawatte um, dann machte er sich auf den Weg. Er wollte diesen Herrschaften auf Augenhöhe begegnen. Unterwegs wurde er von vielen Leuten gegrüßt. Nach Workutiner Maßstäben hatte er es zu etwas gebracht. Nicht umsonst suchte sein Schwiegervater ihn davon zu überzeugen, das mit der Heimreise nach Deutschland zu überdenken. Fast dreißig Jahre hatte Lorenz in Russland zugebracht. Inzwischen kannte er sich hier besser aus als zu Hause. Was ihn in Deutschland erwartete, wusste niemand.
Pawel Alexandrowitsch konnte sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen, seine Tochter gehen zu lassen. Vor allem die Kinder würden ihm fehlen. Gewiss, nach Jahren der Ungewissheit gab es endlich auch Kontakt zu Nina. Die westdeutsche Verwandtschaft von Lorenz hatte ihre Spur gefunden. Nina war auf den verschlungenen Wegen des Krieges in London gelandet. Sie arbeitete als Krankenschwester in einem Hospital und dachte nicht daran, je in die Sowjetunion zurückzukehren. Nicht allein, weil es ihr in England besser ging. Sondern vor allem, weil Nina wusste, dass bei der Rückkehr auf sie nur eines wartete: das Lager. Zigtausenden, die aus deutscher Gefangenschaft oder von der Zwangsarbeit heimkehrten, erging es so. Sie, deren Vater Jahrzehnte in Gefängnissen und Lagern zugebracht hatte, konnte mit keinerlei Nachsicht der sowjetischen Behörden rechnen. Von vornherein stünde sie unter Verdacht. Spionin des Kapitals, Verräterin an der sowjetischen Sache – der Einfallsreichtum des Geheimdienstes kannte keine Grenzen. Was spielte es da schon für eine Rolle, dass man sie als junges Mädchen nach Deutschland verschleppt hatte, dass sie fast krepiert wäre. Nein, all das galt nichts. Der KGB witterte überall Beute. Nie wieder sollte Nina russischen Boden betreten.
Im «schlauen Häuschen» ging es zu wie immer. Jeder, der dorthin kam, wurde grundsätzlich wie Dreck behandelt. Eine geschlagene Stunde musste Lorenz in einem schmuddeligen Korridor warten. Den einzigen Stuhl hatte eine dicke Frau eingenommen, sie kontrollierte die Passierscheine. Er wollte nur in das Zimmer 124, dahin war er bestellt. Doch es rührte sich nichts.
Weitere Kostenlose Bücher