Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Der Sergeant an der Pforte hatte ihn telefonisch angekündigt und den Hinweis erhalten, der Besucher möge nicht unaufgefordert in das Zimmer eintreten. So musste er warten, ewig warten. Die Müdigkeit kehrte zurück. Lorenz wollte schon gehen, da sah er auf dem Gang einen Offizier kommen.
«Oh, da sind Sie ja, Lorenz Lorenzowitsch!», grüßte der Mann übertrieben höflich. «Darf ich mich vorstellen: Hauptmann Moskin.»
Er gab Lorenz die Hand. Als Lorenz kräftig zupackte, hörte der Hauptmann für einen Moment mit dem Lächeln auf. Doch schon hatte er die Kontrolle wiedergewonnen und schloss mit einem dicken Schlüsselbund klimpernd die Tür auf.
«Das ist ja wirklich schade. Ich habe die ganze Zeit in der 224 auf Sie gewartet und dachte schon, Sie seien aufgehalten worden.»
«Wieso 224?» Lorenz war außer sich. «Hier auf dem Zettel steht eindeutig 124. Sehen Sie?»
Der Major betrachtete interessiert das Papier.
«Da muss bei Ihnen jemand am Telefon etwas missverstanden haben. Und dann heißt es wieder, der KGB sei unhöflich. Aber kommen Sie doch. Das Zimmer ist gerade frei. Alles, was wir brauchen, habe ich in meiner Mappe. Möchten Sie Tee?»
Er wandte sich zu der Frau auf dem Stuhl:
«Mascha, wären Sie so freundlich, uns zwei Gläser Tee zu bringen.» Es erfolgte keine Reaktion. «Maschenka, Täubchen, tun Sie bitte, was ich sage. Und das mit den Passierscheinen, ich passe so lange auf, keine Sorge.»
Die Frau erhob sich und setzte sich in Bewegung. Moskin drehte sich zu Lorenz um und lächelte.
«Wissen Sie, Lorenz Lorenzowitsch, es gibt viele Menschen, die verstehen höfliche Umgangsformen nicht. Das ist nicht wie bei Ihnen in Deutschland. Du kannst so freundlich sein, wie du willst, sie sind unwillig und grob. Sehen Sie, eigentlich gibt es diese Arbeit, der Mascha nachgeht, überhaupt nicht. Es reicht, wenn jemand an der Pforte die Dokumente kontrolliert. Weil sie aber die Frau eines verstorbenen Genossen ist, haben wir sie untergebracht. Nun geht sie allen auf die Nerven. Und wenn man sie bittet, Tee zu holen, knurrt sie auch noch. Da soll man an das Gute im Menschen glauben.»
Lorenz hörte zu und fragte sich, worauf der Mann hinauswollte. Der Schlenker mit den höflichen Deutschen wäre noch vor Jahren undenkbar gewesen. Ohne Grund würde der Hauptmann einen solchen Ausfall gegen die eigenen Landsleute nicht riskieren. Moskin schwatzte und schwatzte, bis Mascha endlich mit zwei Gläsern heißen Tees hereinkam. Sie setzte sie mitten in die Papiere auf dem Schreibtisch ab, warf einige Stücke Zucker hinterher und wogte hinaus. Im Raum blieb ihr Maiglöckchenparfüm.
«Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen. Wir haben da Post für Sie. Aus Moskau!»
Lorenz erfasste mit einem Blick, worum es sich handelte. Das Ministerium des Inneren hatte verfügt, dass seiner Ausreise und der seiner Familienangehörigen nichts mehr im Wege stand. Bis Ende Oktober 1958 sollten sie das Land verlassen haben. Des Weiteren wurde bestätigt, dass er auf Grundlage eines Beschlusses des Obersten Sowjets aus der Staatsbürgerschaft der UdSSR entlassen wird. Das war’s. Er schaute auf das langersehnte Stück Papier und war mit seinen Gedanken schon weit in der Zukunft, da holte ihn die Stimme des Hauptmanns zurück:
«Es steht also fest, dass Sie fahren.»
«Ja, ich glaube, es steht fest.»
«Nun können Sie aber auch glauben, dass man Sie dort nicht mit offenen Armen empfängt …»
Lorenz horchte auf.
«Ich denke, ich habe mich hier durchgesetzt, und das war nicht einfach. Ich werde auch dort nicht der Letzte sein …»
«Ja, Sie sind hier ein hochgeschätzter Mann. Aber es wird dort mit Sicherheit nicht leicht …»
«Natürlich nicht. Aber Sie haben mich doch nicht hierhergerufen, um mit mir über den schweren Anfang in der Heimat zu sprechen?»
«Verstehen Sie es nur richtig …»
«Was?»
Lorenz war sich sicher, dass es die beste Strategie für dieses Gespräch sei, so zu tun, als verstünde er rein gar nichts.
«Wir haben mit der DDR einen engen Kontakt, viele Freunde, die unter Umständen auch Ihnen behilflich sein könnten. Nicht nur Russen. Auch Deutsche. In wichtigen Positionen.»
«Das glaube ich Ihnen aufs Wort, dass Sie dort gute Freunde haben. Aber danke, ich komme schon zurecht.»
«Meinen Sie etwa, Sie bräuchten keine Hilfe?»
«Schon, aber ich erinnere mich gut, Sie und Ihre Kollegen haben mir schon einige Male im Leben auf Ihre ganz spezielle Weise geholfen. Ich glaube, ich
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