Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
Vom Netzwerk:
im ‹Krokodil› gesehen.»
    Er zeigte meinem leicht eingeschüchterten Bruder die Karikaturen.
    «Hast du mich verstanden?»
    Pascha nickte.
    «Ansonsten hältst du deinen Mund! Ist das klar?»
    Pascha nickte erneut.
    Wir setzten uns an den Tisch. Die Mutter verteilte Pelmeni, Teigtaschen mit Fleischfüllung, auf die Teller. Erleichterung machte sich in der Küche breit, nun würden sie meinen Bruder doch nicht einsperren. Am Morgen marschierten Vater und Pascha in die Schule. Mutter und ich blieben daheim. Wohl auch, weil sie die Wohnung den fremden Männern nicht allein überlassen wollte. Ich suchte sie in Gespräche zu verwickeln, in der Hoffnung, mich dem grässlichen Ritual zu entziehen. Aber es half nichts. Die Mutter war zu keinerlei Kompromissen bereit. Sie holte aus dem Schrank eine grüne Flasche. Lebertran. Wie ich ihn hasste. Ich schrie, ich drohte, ich weinte. Es half nichts. Ich musste einen ganzen Löffel voll mit dem öligen Zeug schlucken.
    Obwohl es bei uns daheim immer zu Essen gab, Vitamine fehlten. Lebertran galt für Kinder als das Mittel gegen alle Widrigkeiten des Nordens. Wurde mein Protest gegen das eklige Öl zu laut, suchte mich der Vater mit Geschichten zu überzeugen, dass der Tran «lecker» sei. Um im Lager nicht an Skorbut zu erkranken, gehörten er und der Großvater zur Fraktion der «Grasfresser». Das hieß, wann immer der kurze Polarsommer die Gelegenheit dazu bot, sammelten sie Schafgarbe, Hirtentäschel oder wilden Schnittlauch und mischten das Grün in ihr Essen. Nur deshalb, sagte der Vater, hätte er seine Zähne noch. Für mich blieb Lebertran nicht viel besser als Grasfressen.
    Gegen Mittag sah ich aus dem Fenster meinen Bruder, wie er auf den Gleisen nach Hause schlenderte. Er sah nicht unglücklich aus. Später in der Küche erzählte er, dass sie ins Kabinett des Schuldirektors bestellt worden waren. Da saßen lauter wichtige Männer, auf dem Schreibtisch lag das Heft mit der Luftschlacht. Die Lehrerin blickte siegesgewiss. Der Vater hatte das «Krokodil» dabei. Als er dem Tribunal die Karikaturen zeigte und Pawel schwor, er hätte die Hakenkreuze von dort, waren sie erst verdutzt, später fast erleichtert. Jeder ermahnte Pascha, nichts mehr in Swetlanas Heft zu malen. Was er feierlich mit Pionierehrenwort gelobte. Die Anklage, er sei ein Faschist, ließen sie offensichtlich fallen.
    Als er den Arm zum Schwur über dem Kopf hob, fiel dummerweise auf, dass sein rotes Pioniertuch an den Spitzen lauter Tintenflecke hatte. Er musste das symbolträchtige Stückchen Stoff ins Tintenfass getaucht haben. Doch er weigerte sich, diesen Frevel zuzugeben. So ließen sie von ihm ab. Was der Vater sonst noch mit den Männern zu besprechen hatte, wusste Pawel nicht. In der nächsten Stunde gab es ein Diktat zurück, Swetlana hatte eine Zwei, eine sehr schlechte Zensur, während er mit einer Vier zu den Besseren gehörte. Mehr Rache konnte nicht sein.
    Am Nachmittag hielt ein grüner «Gasik», ein Geländewagen der Marke «Gas», vor unserer Tür. Das war für die Jungs auf dem Hof an sich schon ein Ereignis. Als dann noch die beiden geheimnisvollen Untermieter ausstiegen und, nachdem die Mutter die Hunde angebunden hatte, ins Haus gingen, gaffte ihnen die versammelte Hofgemeinschaft hinterher. Erstaunt sah ich, dass die Fremden ihre Geräte in die Kisten verstaut hatten und alles abtransportierten. Mutter, Pascha, ich und die Hunde schauten schweigend zu. Dann waren sie weg, als hätte es sie nie gegeben.
    Später, viel später, erfuhr ich den Grund ihres Aufenthalts bei uns. Unter den vielen Tausenden unschuldig verhafteter Menschen, denen sowjetische Gerichte Spionage andichteten, gab es hin und wieder auch einen, der tatsächlich ein Spion war. Jedenfalls fing der KGB eines Tages Funksprüche ab, die auf einen Agenten in Workuta schließen ließen. Jeden Dienstagabend morste jemand verschlüsselte Botschaften. Gefangenenzahlen, Kapazitäten der Kohleminen, Anzahl des Wachpersonals. Schleunigst wurde eine Operativgruppe zusammengestellt. Ganz oben auf der Liste der Verdächtigen stand mein Vater. Gebildet, technisch versiert, er hatte inzwischen seinen Bergbauingenieur nachgeholt, dazu ein Deutscher: Alles passte. Für einen Mann wie ihn war es ein Klacks, sich einen Sender zu bauen. Und durch seine Stellung kam er zudem an wichtige Informationen für den britischen Geheimdienst heran. Dass der Auftraggeber nur der Secret Service sein konnte, stand außer Zweifel.
    Die

Weitere Kostenlose Bücher