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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Seiten ihres Heftes. Überall ratterten die MGs, getroffene Maschinen hinterließen beim Absturz einen Rauchschweif, andere rammten den Gegner mit dem Propeller. Glühend beneidete ich meinen Bruder um das Talent, so schöne Flugzeuge malen zu können. Doch Swetlana war ein Mädchen. Flugzeuge interessierten sie wenig, eine Luftschlacht schon gar nicht. Weinend ging sie mit ihrem Schreibheft nach vorn zur Lehrerin. Meinen Bruder erwartete ein böser Eintrag ins Aufgabenheft. Eine «1» fürs Betragen, die schlechteste Zensur in Russland, war ihm sicher.
    Doch es kam noch schlimmer. Die Lehrerin rannte zum Direktor. Einige der Jagdflugzeuge trugen als Hoheitszeichen nicht den Sowjetstern, sondern ein Hakenkreuz. Und nicht alle Maschinen mit Hakenkreuz brannten oder waren abgeschossen. Also keine Verlierer. Nein, sie leisteten Widerstand. Schossen zurück und trafen Flugzeuge mit dem Stern. Lehrerin und Direktor wussten Bescheid: Pawel war der Sohn eines Deutschen. Eines Deutschen von dort . Das mit dem Hakenkreuz konnte er nur von seinem Vater haben. Es bestand kein Zweifel, hier auf dem Rudnik gab es auch Jahre nach dem Krieg ein Faschistennest. Und jetzt, mit Hilfe der Zeichnung, konnte der Untergrund ausgehoben werden. Der Vater wurde ultimativ aufgefordert, in der Schule zu erscheinen. Stadtparteileitung und KGB waren informiert.
    Verzweifelt versuchte Pascha am Abend, etwas zu erklären. Doch keiner hörte zu. Der Vater wusste, schon weniger hatte Menschen für Jahre hinter Gitter gebracht. Es würde nicht leicht sein, die unsinnigen Verdächtigungen zu entkräften. Vor dem Abendbrot war es sehr still. Der Vater rechnete etwas mit dem Rechenstab, die Mutter hantierte am Herd. Pascha hatte sich zu seinen Schularbeiten verabschiedet. Das passierte selten. Als ich ins Zimmer schaute, sah ich ihn hastig ein Buch unter der Tischplatte verstecken. Ich wollte gerade losrennen und es der Mutter erzählen, da wurde ich abgelenkt.
    Einer der Untermieter hatte am späten Nachmittag das Haus verlassen. Nun kam er zurück und wollte obendrein in der Küche Tee kochen. Er stand an der Elektroplatte und wartete, bis der Kessel zischte. Wir schwiegen und schauten ihm zu. Dann ging er wieder ins Zimmer zu seiner komischen Apparatur. Der Vater hatte den Rechenschieber inzwischen beiseitegelegt und saß brütend am Tisch. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Er stand so schnell auf, dass der Stuhl fast umgefallen wäre; hastig durchwühlte er die alten Zeitungen und Zeitschriften, die beim Küchenherd lagen. Kohleanzünder kannte man in Workuta nicht, man musste die «Prawda» nehmen. Er blätterte und blätterte und fand endlich, was er suchte. Es war in der Satirezeitschrift «Krokodil».
    «Da haben wir doch, was wir brauchen. Ich wusste, auf die Kukriniksy ist Verlass!»
    Strahlend hielt er eine Karikatur hoch, die den amerikanischen Weltpolizisten geißelte. Ihm zur Seite flog ein westdeutscher Helfershelfer in einem Kampfflugzeug. Und was prangte auf dessen Tragflächen? Natürlich zwei Hakenkreuze! Das war schon mal gut. Linientreuer als die Künstlergemeinschaft Kukriniksy konnte man nicht sein. Nach langem Suchen fischte er noch zwei «Prawda»-Ausgaben aus dem Stapel, in denen sich ebenfalls böse Imperialisten mit Hakenkreuzen fanden. Triumphierend schwenkte der Vater seine Beute. Im gleichen Moment flog die Tür auf, die beiden Fremden standen in der Küche. Nicht nur wir schauten verdutzt, sondern auch sie. Der mit den schmutzigen Stiefeln fuhr den Vater an:
    «Was machen Sie da?»
    «Ich lese gerade der Familie aus der ‹Prawda› vor», antwortete der Vater ruhig und bestimmt, die Zeitung vor sich ausbreitend. «Ich mache das jeden Dienstagabend. Genossen, Sie wissen doch, man kann mit der politischen Arbeit nicht früh genug anfangen.»
    Die Männer, eben noch wild entschlossen, sich auf den Vater zu stürzen, schauten sich an.
    «Politische Arbeit …»
    «Ja, politische Arbeit mit den Kindern und meiner Frau», bekräftigte der Vater, ohne dass man einen Unterton heraushören konnte. «Sie sollen ja anständige Sowjetmenschen werden.»
    «Sowjetmenschen?»
    Beide plapperten den Vater erneut nach. Dann drehten sie sich um und verließen ohne ein Wort der Erklärung oder gar einer Entschuldigung die Küche. Man hörte ihre Schritte, dann knallte die Tür. Es wurde still. Der Vater winkte Pascha zu sich:
    «Wenn sie dich morgen fragen, woher du ein Hakenkreuz kennst, dann sagst du klar und deutlich, du hast es

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