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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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zu teilen. Nur er allein kehrte heim.
    «Die Papiere bitte.»
    Lorenz reichte dem Grenzer Pässe und Zollerklärung. Routiniert blätterte der Beamte die Seiten durch, drückte seinen Stempel hinein und gab die Dokumente zurück.
    «Sie sind in Dortmund geboren?», fragte er.
    «Ja.»
    «Dann steigen Sie bitte in Frankfurt aus. Der Anschlusszug nach Westberlin und Hannover wartet.»
    «Wieso Westberlin? Wieso Hannover?» fragte Lorenz verständnislos. «Ich fahre nicht in den Westen. Ich fahre in den Osten. Außerdem ist unser Abteil bis zum Ostbahnhof in Berlin bezahlt.»
    «Das mag sein», erwiderte der Grenzer ungerührt. «Aber die Bestimmungen lauten anders. Sie können sich ja von Dortmund aus bemühen, in die DDR zu kommen. Vorerst müssen Sie in Ihre alte Heimat zurück.»
    Lorenz starrte den Mann an, dann folgte er ihm auf den Gang. Es war ihm zutiefst peinlich vor Frau und Kindern, dass es in Deutschland nicht viel anders zuging als in der Sowjetunion.
    «Ewas stimmt mit Ihren Instruktionen nicht», versuchte er, den Mann in Uniform zu überzeugen, der bereits in der nächsten Abteiltür stand und wieder sein «Die Papiere, bitte» rief.
    «Meine Richtlinien sind klar und deutlich: Wer im Osten geboren ist, kehrt in den Osten zurück. Wer im Westen geboren wurde, in den Westen.»
    «Das mag ja im Allgemeinen so sein, aber ich bin kein gewöhnlicher Fall. Auf mich wartet im Ostbahnhof ein Mitarbeiter des ZK, der uns abholen soll. Es gibt Ärger, wenn wir nicht ankommen.»
    «Tut mir leid. Aber ich kann Ihnen da nicht helfen.»
    Der Grenzer ließ sich durch das Gespräch nicht davon abhalten, weitere Pässe abzustempeln.
    «Der Zug hält in Frankfurt eine Stunde. Vielleicht können Sie ja da etwas erreichen. Aber erst müssen Sie raus aus Ihrem Abteil.»
    Lena, die von dem Wortwechsel zwar nichts verstand, aber am Ton mitbekommen hatte, dass etwas nicht stimmte, fragte, was los sei. Lorenz versuchte, sie und die Kinder zu beruhigen. Nur ein Missverständnis, es würde sich in Frankfurt aufklären. Erschöpft setzte er sich auf die Bank. Sein Gesicht spiegelte sich im Glas der Tür. Blass, eingefallene Wangen, schmale Lippen. Hörte das nie auf? Konnte in diesem Leben nicht ausnahmsweise einmal etwas auf Anhieb klappen? Glattlaufen, so, wie es sollte, und so, wie er es gewollt hatte?

IV
    Am Ende des Bahnsteigs, woher ein kalter, durchdringender Wind zog, sah man einen Fetzen des Nachthimmels und die roten Rücklichter eines Zuges. Aus einem Kiosk schwappte der Geruch von Bockwurstbrühe. So also sah Deutschland aus. So roch es. So schmeckte es. Deutschland im November. Ich stand da und zitterte. War es die Kälte? War es die Aufregung? Ich wusste es nicht.
    Unsere Koffer türmten sich wie eine Wehrmauer um uns herum. Die Passagiere eilten rechts und links vorüber, verschwanden im unbeleuchteten Schlund der Unterführung. Der Ostbahnhof lag grau und schmutzig. Doch nach der Aufregung in Frankfurt wirkte der Vater gelöst. Es bedurfte mehrerer hitziger Gespräche mit dem Bahnpersonal und einiger An- und Rückrufe aus Berlin, bis klar war, wir konnten im Abteil bleiben. Jetzt drehte er sich immer wieder lächelnd um, als wollte er uns sagen: Seht ihr, ist das nicht herrlich? So schön ist Deutschland!
    Die Mutter schaute unsicher. Ich sah zwischen all den Kippen und leeren Zigarettenschachteln einen angebissenen Apfel liegen. Mit der Schuhspitze schnippte ich ihn aus der Mauerecke und schoss ihn in Richtung jener Stufen, die nach unten führten. Der Apfel verschwand in der Unterführung wie eine Billardkugel im Loch. Im nächsten Moment sah man einen wütenden Mann aus dem Untergrund auftauchen. Er blieb stehen und musterte jeden auf dem Bahnsteig.
    «Setz dich!», zischte der Vater; sein Körper verdeckte mich.
    Ich ließ mich, wenn auch mit würdevoller Verzögerung, auf einem der Koffer nieder und tat so, als hätte ich hier schon Stunden verbracht.
    Der Mann trug einen langen, wie ein Sack in breiten Bahnen herunterhängenden grauen Mantel; noch immer bemühte er sich zu ergründen, wer da gerade versucht hatte, ihn mit dem Apfelgriebs zu treffen. Der Bahnsteigwärter, die russischen Offiziere, das verfrorene Pärchen, die ältere Dame mit dem Zopf, mein Vater, meine Mutter, sie alle standen zwar in der Nähe, kamen aber nicht in Frage. Der Einzige, dem man die Sache hätte zutrauen können, das war mein Bruder. Doch Pawel schnürte sich gerade seinen Schuh, also konnte auch er es unmöglich gewesen sein.

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