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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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verzichte in Zukunft lieber darauf.»
    «Aber …»
    «Abgesehen von der unumstrittenen Tatsache, dass ich nur dank Ihrer Hilfe überhaupt hier bin, erinnere ich mich gut daran, wie Ihre Genossen behilflich sein wollten, mich an die falsche Seite auszuliefern. Um genau zu sein, an die Gestapo.»
    «Ausliefern? Das muss vor meiner Zeit gewesen sein. Ich dachte nicht, dass ein so kultivierter Mensch wie Sie so nachtragend sein könnte.»
    «Nachtragend? Nein, nachtragend bin ich nicht. Aber ich vergesse nichts.»
    «Sie müssen verstehen, solch eine Zusammenarbeit wäre für beide Seiten von Vorteil. Sie würden Informationen liefern», Moskin machte eine Pause, «und wir passen auf, dass Ihnen nichts passiert.»
    Der KGB-Mann setzte ein breites Lächeln auf.
    «Ich kann auf mich selbst aufpassen. Immerhin das habe ich in Workuta gelernt. Nein. Ein klares Nein.»
    Lorenz ging zur Tür. Für ihn war das Gespräch beendet. Doch Moskin war schneller. Er legte seine Hand auf die Türklinke und fragte ernst:
    «Glauben Sie etwa, dort gibt es keine Feinde? Und meinen Sie nicht, dass wir alles über die wissen müssten?»
    «Das ist Ihre Arbeit. Meine ist eine andere. Von mir kriegen Sie keine Informationen. Sagen Sie das auch Ihren Kollegen, die schon dort sind.»
    Lorenz drückte mit seiner Hand auf die von Moskin, die Tür sprang auf. Dem Hauptmann entgleisten die Gesichtszüge.
    «Sie fahren also.»
    «Ja, ich fahre.»
    «Und Sie sind davon überzeugt, dass das Leben dort, in Deutschland, besser ist?»
    «Ja, ich bin davon überzeugt.»
    «Tja, da ist wohl nichts zu machen. Wie sagt doch unser großer Poet Puschkin: Es ist überall schön, wo wir nicht sind …»
    «Sie sagen es!»
    Mit weit ausholenden Schritten ging Lorenz aus dem Zimmer, er verzichtete darauf, auf Wiedersehen zu sagen. Auf dem Flur schaute die dicke Mascha für einen Moment hinter ihrer Zeitschrift hervor, er nickte ihr zu, aber sie drehte sich um, immer noch erbost, dass sie für so einen Tee holen musste. Lorenz sprang die Treppe hinunter, über den Hof, vorbei am Pförtner auf die Straße. Erst da blieb er stehen, holte tief Luft und schaute sich ein letztes Mal um.
    «Es ist überall schön, wo sie nicht sind …»
    Puschkin ist ein großer Poet.

III
    Ein grauer Novembertag. Der Zug schob sich langsam auf die Brücke. Lorenz stand allein im Gang und schaute durch das geöffnete Fenster. Hinter ihm das Abteil mit Lena und den Kindern, vor ihm der Fluss. Schweres, wie in Blei gegossenes Wasser glitt dahin. Das Ufer rückte näher. Noch hundert, noch fünfzig, noch zwanzig Meter. Das welke Gras der Wiesen, ein paar ausladende Weiden, ein zerfahrener Weg.
    Das also war Deutschland.
    Eine grausame Reise, die vor fast dreißig Jahren an der Ruhr ihren Anfang genommen hatte, ging an der Oder zu Ende. Er war über fünfzig. Genauer gesagt, seit einigen Tagen einundfünfzig Jahre alt. In diesem Alter noch mal ganz von vorn anfangen? An Türen klopfen, ohne Gewissheit, ob überhaupt jemand öffnete? Wenn der KGB-Mann gewusst hätte, wie oft er sich das selbst schon gefragt hatte, dann wäre er sicherlich hartnäckiger geblieben. Die meiste Angst macht dem Menschen das Ungewisse. Das hatte er auf den endlosen Märschen und Etappen verstanden. Man brauchte im Grunde nicht viel, um glücklich und zufrieden zu sein. Ein Platz am Feuer, eine schützende Wand im Rücken, ein Stück Brot. Darauf reduzierte sich alles. Das war so, das ist so, das wird immer so bleiben. Ach ja, da war noch der «Kipjatok». Na, etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf, das hatte er selbst im Lager – und etwas Schlimmeres als Workuta konnte es kaum geben. Warum sollte er also hier nicht zurechtkommen? Mochten sie ihn auch nicht mit offenen Armen empfangen, er hatte ja «gesessen», mochten sie ihm auch misstrauen, er war ja viel zu lange «dort» gewesen, ihn scherte es nicht. So schnell würde ihn in der neuen alten Heimat nichts umwerfen. Und dann war ja auch noch der eine oder andere, der ihn von früher kannte. Ganz wertlos dürfte die Erinnerung daran nicht sein, hoffte er.
    Der Zug wurde langsamer, ging in Schritttempo über, bis er im offenen Feld stehen blieb. Uniformierte stiegen zu, Grenzer und Zöllner. Mit Freude vernahm Lorenz am Ende des Gangs laute Stimmen, die Deutsch sprachen. Lorenz riss die Tür des Abteils auf:
    «Wir sind in Deutschland!»
    Doch er war mit seiner Begeisterung allein. Ihn schauten drei ernste Gesichter an, weit davon entfernt, seine Freude

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