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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Mich nahm der Mann nicht zur Kenntnis. Zu klein. Zu brav.
    Inzwischen war er in seiner ganzen Fülle aus der Unterführung aufgetaucht. Einen Augenblick schien er zu zögern, ob er den ärgerlichen Vorgang weiter verfolgen sollte, doch dann ging er sicheren Schritts auf den Vater zu, nahm den Hut ab und fragte:
    «Entschuldigung, sind Sie Genosse Lorenz Lochthofen?»
    Der Vater zog gleichfalls seinen Hut. Den hatte er im Moskauer Gum-Kaufhaus vor der Abreise gekauft. Die Krempe war schmaler als bei dem Modell, das der Mann trug; offenbar unterschied sich die Mode in Berlin von der in Moskau.
    «Ja, ja, ich bin es! Und wie heißt du, Genosse?»
    Es war nicht zu übersehen, in ihm sprühte Freude. Der Mann erwiderte die Herzlichkeit nicht.
    «Ich heiße Kaden und bin Mitarbeiter des ZK. Zuständig für die Rückkehrer aus der Sowjetunion. Ich soll dich abholen.»
    Er blickte ungläubig auf die Koffer:
    «Ist das alles euer Gepäck?»
    «Nicht alles. Nur die Koffer. Die Kisten mit dem Hausrat sind noch im Gepäckwagen. Warum fragst du?»
    Der Mann schien nach den passenden Worten zu suchen:
    «Wer von dort kommt, hat in der Regel nichts.»
    Er schaute dem Vater ins Gesicht, als suchte er hinter den braunen Augen eine Erklärung.
    «Sieben Koffer! Das habe ich noch nicht gesehen.»
    Der Vater stellte «Towarisch» Kaden jetzt der Mutter vor. Da sie kaum Deutsch verstand und Pascha und ich erst recht nicht, musste er jeden Satz übersetzen. Er hatte zwar in Workuta versucht, mir ein paar Wörter seiner Muttersprache beizubringen, doch ohne sonderlichen Erfolg. Wenn er nach dem Abendessen «Es klappert die Mühle am rauschenden Bach» anstimmte, schaute der Rest der Familie, einschließlich der Hunde, betreten zu Boden. Er aber war gerührt. Ich fand das Ganze mit dem «Klipp, Klapp, Klipp, Klapp» ziemlich peinlich.
    Überall in Workuta, auf dem Hof, im Kino, bei den Jungs galt der Deutsche nach dem Krieg als Unmensch, allenfalls als Verlierer. Wer wollte da schon freiwillig dazugehören? Aber beinahe hätte es mich erwischt. Auf der Suche nach einem Namen für mich war der Vater gewillt, «Erich» durchzusetzen, in Erinnerung an seinen jüngeren Bruder, der im Krieg gefallen war. Doch für einen «Erich» hätte der Hof auf dem Rudnik kein Verständnis gehabt. Ein «Erich» – das war für Petka, Saschka oder Jegorka ganz klar –, ein Erich, das konnte nur ein Faschist sein. Allein meinem Bruder hatte ich es zu danken, dass der Vater von seinem Vorhaben abließ. Als man Pawel die Neuigkeit eröffnete, dass er bald ein Brüderchen bekommen werde und dass es obendrein einen hübschen deutschen Namen erhalten solle, verballhornte er das «Erich» sofort zu «Jerka». Das ärgerte meinen Vater maßlos. Wenn schon der eigene Bruder so auf die Namenswahl reagierte, wie sollte es da erst in der russischen Schule sein? Denn wann die Verbannung in der Tundra ein Ende haben würde, ob überhaupt, das konnte niemand wissen. Aus dem «Erich» wurde nichts. Man einigte sich auf Sergej.
    Inzwischen war zu unserer kleinen Gruppe auf dem Bahnsteig ein weiterer Mann gestoßen, offensichtlich der Fahrer. Ich betrachtete ihn mit tiefem Misstrauen. Auf dem Kopf hatte er genau so eine Mütze, wie sie die Folterknechte der Wehrmacht in jedem Russenfilm trugen. Der kurze Schirm, die Metallknöpfe, mit denen die Ohrenklappen zusammengehalten wurden – niemand außer den Deutschen setzte so etwas Grässliches freiwillig auf. Was fehlte, war nur der Adler mit dem Hakenkreuz. Wohin hatte uns der Vater gebracht?
    Flink nahm der Fahrer die beiden größten Koffer und verschwand damit. Die anderen Gepäckstücke verteilten sich auf die restlichen Männer, wobei mein Bruder auch eines tragen durfte. Draußen auf dem Parkplatz blieben wir vor einer dunklen Limousine stehen. Einen «Wolga» kannte ich, einen «Pobeda» auch, aber ein «EMW», wie es mir mein Bruder buchstabierte, der war mir neu.
    Als es endlich losging, setzte sich der Mann vom ZK nach vorn, während wir uns zu viert auf den Rücksitz pressten. Das Auto rollte durch das nächtliche Berlin. Überall sah man die Lücken, die der Krieg in die Häuserzeilen gebrannt hatte. Fast in jeder Wand waren Einschüsse, ganze Maschinenpistolengarben, zu sehen.
    Pascha stupste mich mit Kennermiene:
    «Das waren unsere.»
    Ich nickte. «Unsere» hatten den Krieg gewonnen. Sie hatten die rote Fahne auf dem Reichstag gehisst, denn «Unsere», das waren die Guten.
    Die Fahrt endete bald. Das Auto

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